Die Versammlung bärtiger alter Herren

Gestern noch hatte der alte Herr in der Uniform eines Landwehrmajors Kaiser Wilhelm II. das Hämmerchen übergeben, damit dieser mit drei Schlägen auf den bereitliegenden Stein den Bau des Reichstags vollende. Einen Tag später, am 6. Dezember 1894, eröffnet derselbe Herr von Levetzow, Reichstagspräsident und diesmal in Zivil, die erste Sitzung im neuen Hause. Erst die patriotische Schwärmerei: „Schon der Anblick so vieler Herrlichkeiten, wie sie deutsche Kunst, deutsches Gewerbe hier vereinigt haben, muß ein deutsches Herz erheben und erfreuen.“ Dann die Verpflichtung: „Den vaterländischen Werth zu erhalten, zu pflegen und zu erhöhen – hoffentlich für Jahrhunderte – ist die Aufgabe des Reichstags.“ Schließlich: Der Reichstag erhebt sich und stimmt ein dreifaches Hoch auf den Kaiser an. Einige bleiben sitzen. Unter ihnen ein anderer alter Herr, Wilhelm Liebknecht, Revolutionär von 1848 und zusammen mit August Bebel unbestrittener Chef der ein paar Dutzend Köpfe zählenden sozialdemokratischen Fraktion.

Ob Wilhelm Liebknecht der neue Bau gefallen hat? Die Kuppel bestimmt, denn sie kündet von lichter Zukunft in Glas und Stahl. Aber sonst? Wenn die 397 Abgeordneten den südlichen Eingang passieren, werden sie von vier 2,50 Meter hohen Recken eingerahmt, allesamt deutsche Kaiser. Ein für die Rolle des Reichstags im deutschen Verfassungsgefüge symptomatisches Größenverhältnis: erst der Kaiser und seine Regierung, dann der Bundesrat als Organ der Reichsfürsten (und der hanseatischen Städte), und schließlich das Parlament.

Mit dem Prestige der Volksvertretung, die immerhin aus allgemeinen (minus Frauen) freien und geheimen Wahlen hervorgegangen ist, steht es nicht zum besten. Sie billigt das Budget und beschließt Gesetze, kann aber die Regierung weder ein- noch absetzen, noch sie effektiv kontrollieren. Das Parlament kann einiges verhindern, aber nichts gestalten. Später wird man vom „negativen Parlamentarismus“ in der Epoche Wilhelm II. sprechen. Der Kaiser nennt den Reichstag das „Affenhaus“.

Was sind das für Politiker, die zwischen der Gründung und dem Zusammenbruch des preußisch-deutschen Kaiserreichs den Reichstag bevölkern? Eins ist klar: Die Zahl der Honoratioren, also Amateure, die es sich leisten können, öffentliche Ämter ohne Bezahlung zu bekleiden, nimmt kontinuierlich ab. Ebenso schwinden die Professoren, die mit ihren endlosen Erörtungen zu Grundsatz- und Verfassungsfragen das Bild des Paulskirchenparlaments geprägt hatten. Auch Beamte machen sich rar. Ihnen winkt in der Reichsexekutive die rasche Karriere.

Auf seiten der bürgerlichen Parteien setzt sich stetig der Typus des Politikers durch, der mit großen, das Reich umspannenden Interessenverbänden zusammenarbeitet beziehungsweise finanziell direkt von ihnen abhängt. Die Verbindung vieler Liberaler zu Banken und Industrieverbänden versteht sich von selbst. Die Abgeordnetenliste der preußischen Konservativen liest sich wie eine Gutsbesitzerversammlung, aber politisch zählt die Organisation: der Bund der Landwirte.

Auf seiten des Zentrums kommt, neben den rheinischen Industriellen, ein neuer Politikertypus ins Spiel, der den modernen, während des Kulturkampfes entstandenen Organisationsformen des politischen Katholizismus entspringt. Im Reichstagsalmanach sehen wir bei der Zentrumspartei die Fotos einer Reihe glattrasierter Herren (die einzigen im Reichstag ohne Barttracht!): Prälaten oder Priester. Diese Entwicklung trifft noch stärker auf die Sozialdemokraten nach dem Ende der Sozialistengesetze zu. Nähme man die Berufsbezeichnungen der SPD-Abgeordneten wörtlich, man könnte glauben, es mit dem Verband deutscher Schriftsteller zu tun zu haben. Die vielen Autoren, Redakteure, Publizisten – sie sind Angestellte der aufstrebenden sozialdemokratischen Medien.

Und wer dort sein Brot nicht findet, ist Gewerkschafts- oder Arbeitersekretär. Trotz August Bebel und Wilhelm Liebknecht: Das Gros der sozialdemokratischen Abgeordneten ist eng auf die wirtschaftliche Interessenvertretung ihrer Klientel spezialisiert. Ihre sozialistische Überzeugung erschöpft sich in einem konsequenzlosen „revolutionären Attentismus“. Und in dem Maße, wie die Wähler der SPD seit Beginn des Jahrhunderts der nationalen Demagogie anheimfallen, tun es auch ihre Abgeordneten. Die politische Professionalisierung leitet sich nicht von den erst seit 1906 gezahlten Diäten ab, sondern von der Verschwisterung von Abgeordnetenstatus und Verbandstätigkeit.

Aus den mageren Kompetenzen des Reichstags folgte nicht der Kampf um deren Erweiterung, sondern die politische Selbstkastrierung. In diesem Parlament ging es um die Behauptung von Gruppen- und Klasseninteressen, kaum jemals aber um grundlegende Fragen der politischen Gestaltung. Für die Parlamentarier war es nahezu unmöglich, die eigenen sozialen Schranken zu überspringen. Alle Parteien, auch die SPD, entstammten relativ geschlossenen Sozialmilieus – der Arbeiterschaft der Großstädte, der ländlichen Bevölkerung Ostelbiens, der süddeutschen Kleinbourgeoisie, dem rheinischen oder bayerischen „klassenübergreifenden“ politischen Katholizismus.

Im Reichstag ging es in erster Linie um die Autonomie dieser Sozialmilieus und ihrer (Sub)Kulturen. Gemeinsame Ziele, vor allem die Parlamentarisierung Deutschlands, waren unter diesen Bedingungen kaum zu erreichen, und die von der SPD ausgehenden allgemeinen Demokratisierungsimpulse wurden stets wieder isoliert. Es ist dem kaiserlichen Reichstag nie gelungen, sich zu einem politischen Ort zu entwickeln, an dem sich die demokratischen Aspirationen der Arbeiterbewegung und von Teilen des Bürgertums wirklich fokussiert hätten. So wurde es der herrschenden, bürokratisch- militaristischen Machtelite leichtgemacht, vermittels riesiger Propagandaapparate ihre imperiale Politik tief in der Gesellschaft zu verankern. Christian Semler

Christian Semler, 60, ist Mitarbeiter der taz