■ Nicht einmal die digitale Revolution könnte Plenardebatten überflüssig machen
: Wer oft spricht, ist wichtig

Spitzenpolitiker müssen gute Darsteller sein, denn das Fernsehn braucht eindrucksvolle Bilder: die sichtbare Regung. Wenn Schäuble schimpft, lacht Schröder oder tut ganz und gar desinteressiert, liest Zeitung, wühlt in Akten. Die TV-Berichte bringen den pointierten Kernsatz und die mimische Reaktion des Kontrahenten dazu. Das sieht lebendig aus. – Und es gibt immer wieder Kommentatoren, die sich an der gelegentlich geringen Beteiligung der Abgeordneten stören. Sie behaupten nicht, daß ein volles Haus zu besseren Ergebnissen käme, sondern beklagen mangelndes Gespür für den Symbolgehalt lichter Reihen: Präsenz als Zeichen, das den Bürgerinnen die Bedeutung von Politik verdeutlicht – eine schlichte Pädagogik zwar, aber auf dem richtigen Weg.

Wenn Politiker hier sprechen, so ist das keine Überzeugungsarbeit am Auditorium, denn das ist in der Sache längst entschieden. Auch in den sogenannten Sternstunden des Parlaments – etwa anläßlich einer Regierungserklärung –, in den großen Debatten, die Raum zu allgemeiner Erörterung bieten, ist die Bevölkerung an den Bildschirmen der Adressat und nicht der „Herr Präsident“ und „meine Damen und Herren“ im Saal. Das „Hohe Haus“ ist als Ort Symbol: Hier werden zwar keine Blutopfer gebracht und keine Jünger getauft, doch die Handlungen stehen nicht für sich selbst.

Die vorgeführte Aufregung ist also Theater – und deshalb unerläßlich. Der Streit um Ziele und materielle Interessen wird als zivilisierte Konfliktregulierung zelebriert, um in der Öffentlichkeit immer wieder Zustimmung für das Verfahren selbst wie für jene Kompromisse zu erreichen, die für viele Seiten Zugeständnisse bedeuten. Diese Botschaft braucht Rituale, also – so der Brockhaus – „traditionsbestimmte soziale Verhaltensweisen, die mit Regelmäßigkeit zu bestimmten Anlässen in immer gleicher Form hervorgebracht werden“. Sie verweisen auf eine Metaebene, die den Sinn von Handlungen bestimmt, die sich – profan betrachtet – weniger aufwendig veranstalten ließen.

Dem Plenarbereich des Bundestages wird eine „Würde“ zuerkannt, die ihn als Platz kennzeichnet, an dem man sich einer höheren Ordnung unterwirft. Touristen, die für ein Stündchen der Debatte lauschen, verhalten sich instinktsicher respektvoll – so als gingen sie in eine Kirche. Die Volksvertreter erscheinen in doppeltem Wortsinne repräsentativ – auch wenn die „Novizen“ anfangs Mühe haben, die Rolle als symbolisches Medium anzunehmen, das einer Liturgie folgt.

Neben der Funktion als Lehrstück ist das Plenum auch Kampfplatz der Selbstdarstellung. Redezeit ist Präsentationszeit, sprechen zu dürfen ein Zeichen der Bedeutung: Wer oft spricht, ist wichtig. Also reißen sie sich darum, denn es ist das wichtigste berufliche Fundament der Abgeordneten, in der Hauptstadt so viel Aufmerksamkeit zu erregen, daß die Nachricht davon auch in der Heimat zu vernehmen ist. Für Kanzler, Oppositionsführer und potentielle Nachfolger ist die öffentliche Rede zugleich Weisung an die eigene Fraktion und Partei. Die Auftritte des Spitzenpersonals sind Elemente kontinuierlicher Öffentlichkeitsarbeit, die Personen- und Parteiprofile prägen. Aus Reden werden Nachrichten und Botschaften. Der Plenarsaal ist also Kultstätte der Demokratie und Präsentationsbühne zugleich. Die Wählerinnen und Wähler ihrerseits müssen aus den ritualisierten Präsentationen ihre Rückschlüsse ziehen und darauf hoffen, daß die Journalisten auch über Hintergründe berichten. Peter Grafe

Peter Grafe,46, ist Autor und Politikberater in Köln.