Verlorene Buchstaben

Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!“ fleht der Regierende Bürgermeister Ernst Reuter auf einer Kundgebung im September 1948, als die Sowjets die Blockade Berlins beginnen. Reuter steht vor der Ruine des zerstörten Reichstagsgebäudes. Die Inschrift über dem Westportal dagegen hat – beinahe unbeschadet – den Zweiten Weltkrieg überstanden: „DEM .EUTSCHEN .OLKE“ lesen die Berliner. Zwei Buchstaben fehlen. Verloren wie die Buchstaben sind auch ihre Produzenten: Die Bronzegießer Loevy wurden im Nazireich verfolgt und ermordet, ihre Familiengeschichte ist verschüttet.

Als 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, WilhelmII. den Reichstag „DEM DEUTSCHEN VOLKE“ widmet, erhalten die Bronzegießer Siegfried und Albert Loevy den Auftrag. Die Lettern werden auf Geheiß WilhelmsII. aus „erbeuteten Feindeskanonen“ gegossen, und der Schriftzug wird zu Weihnachten installiert.

Während die Gebrüder Loevy an der Inschrift arbeiten, kündigt der Kaiser eine sogenannte Judenzählung in der Armee an, weil ein weitverbreitetes Gerücht unterstellt, Juden würden sich vor dem Frontdienst drücken. Die Gebrüder Loevy, seit 1910 königliche Hoflieferanten, sind Juden. Eingeschüchtert durch die Maßnahme, überredet Siegfried seinen zweiten Sohn, Erich (Sohn Peter war 1915 „für das Vaterland“ gefallen), sich von einem befreundeten Lehrer adoptieren zu lassen, um das Stigma loszuwerden. Erich Loevy heißt ab Sommer 1918 Erich Gloeden.

Die Bronzegießerei „S.A. Loevy“ ist zu diesem Zeitpunkt die älteste und bedeutendste Berlins. Alle führenden Architekten der Bauhaus-Bewegung – Gropius, Mies van der Rohe, Wagenfeld – lassen später ihre Bronzearbeiten bei den Gebrüdern Loevy anfertigen. „Die Loevys“, sagt der Architekturhistoriker Tilmann Buddensieg, „waren der Inbegriff dessen, was der Deutsche Werkbund und später das Bauhaus wollten: künstlerische Entwürfe von handwerklicher Qualität, aber in industrieller Produktion. Und nur gute Sachen, keinen Mist, keine Billigware.“ Trotzdem sind die Loevys heute vergessen – „eine deutsche Katastrophe“, so Buddensieg.

Sucht man in Archiven, findet sich doch etwas. Zum Beispiel über Ernst Loevy, der die Bronzegießerei vom 1925 verstorbenen Vater Albert und von Onkel Siegfried übernommen hatte. Die Firma „S.A. Loevy“ wird im Juli 1939 vom Ariseur Hans Bötzelen „übernommen“ – nachdem die Loevys noch die Bronzearbeiten für Hitlers Neue Reichskanzlei geliefert hatten. Ernst Loevy wird Zwangsarbeiter, Hilfsschweißer in einem Abbruchunternehmen. Im Herbst 1942 wird seine Mutter Franziska nach Theresienstadt deportiert. Ernst Loevy taucht mit seiner Frau in die Illegalität unter – bis er im September 1943 vom Hausmeister seiner letzten Wohnung erkannt, denunziert und daraufhin festgenommen wird. Am 22. Februar 1944 wird er nach Auschwitz deportiert. An der Rampe wird ihm sofort der Weg in die Gaskammer gewiesen.

Erich Gloeden lebt noch immer unbehelligt in Berlin, dank seiner Namensänderung – als „perfekter Assimilant“, wie er selbst spottet. Seit dem Tod seines Vaters Siegfried, 1936, hat er eine Wandlung zurück zum jüdischen Glauben vollzogen. Nach Kriegsbeginn 1939 wird er als Architekt zur Organisation Todt eingezogen: Erich Gloeden als Zionist in Naziuniform! Im August 1944 nimmt er den flüchtigen Wehrmachtsgeneral Fritz Lindemann auf. Nach diesem wird seit dem gescheiterten Putsch vom 20. Juli gefahndet.

Die Gestapo braucht vier Wochen Zeit und die Hilfe von Denunzianten, dann stürmt sie Erich Gloedens Wohnung, verhaftet ihn, seine Frau und seine Schwiegermutter. Von der Gestapo als Juden „enttarnt“, werden sie im November 1944 vom Volksgerichtshof, unter dem Vorsitz von Roland Freisler, zum Tode verurteilt und in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Auf ihrem Todesurteil steht obenauf in großen Buchstaben: „IM NAMEN DES DEUTSCHEN VOLKES“. Armin D. Steuer

Armin D. Steuer, 43, ist Dokumentarfilmer. Sein Fernsehfilm über die Loevys wird demnächst von WDR und B1 gesendet.