Wir werden die Bonner schon schaukeln

Berlin hat noch alles verkraftet. Die Blockade Ende der vierziger Jahre, den Mauerbau, Achtundsechzig und in dessen Gefolge die Einwanderung schwäbischer und fränkischer Exilanten, auch den Fall der Mauer und zuletzt die Love Parade. Die parlamentarische Instandbesetzung des Reichstags wird die Stadt ebenso gut überstehen. Aber hat das überhaupt etwas mit Deutschland zu tun? Mit Hauptstadt womöglich?  ■ Von Jan Feddersen

Heute abend wird man wieder aus dem Rest des Bundesgebiets angerufen. „Wie war's denn?“ Wie war was? „Na, der Reichstag, ich meine, die Eröffnung des neuen Bundestages bei euch.“ (Als ob man in Berlin allzeit plenar beisammensitzt und guckt, was wieder Neues passiert...) Jedenfalls wird man wieder umständlich erklären müssen, daß man eigentlich auch nur die „Tagesschau“ geguckt hat, daß man also nicht live dabei war. Und, so viel steht fest, das Ereignis war auch nur ein Ereignis für diejenigen, die direkt dabei waren.

Also die Abgeordneten und andere Teile der politischen Klasse. Wenn man nicht selbst gerade berichterstattet oder ein Mandatsträger ist, wird man keinen Grund gehabt haben, bei der ersten Bundestagssitzung in den neuen Parlamentsräumen an Ort und Stelle gewesen zu sein.

Man kennt diese speziellen Anrufe aus den Teilen der Republik, die nicht den Hauptstadttitel tragen. Das war schon voriges Jahr so, im Juli bei der Love Parade. Live-Übertragungen im Fernsehen zeigten Bilder, als brodele die ganze Stadt vor Techno. Tatsächlich hat man schon sechs Kilometer Luftlinie entfernt, in dem Teil Neuköllns, in dem der Spiegel die Bronx wiedererkannte, von diesem Spektakel nichts weiter bemerkt, sofern man kein Freund der neueren Tanzmusik ist.

Überhaupt kriegt man nicht soviel mit von dem, was die „Berliner Republik“ bedeuten soll. Eine unmittelbare Folge, so profan liegen die Dinge nun mal, ist zunächst, daß vor dem Reichstag die Rasenfläche nicht mehr am Wochenende Hobbykickern ohne Vereinsmitgliedschaft zur Verfügung steht – sie müssen jetzt woanders freie Fußballflächen suchen.

Aber ist es nicht irgendwie aufregend, in einer Metropole zu leben, die mehr und mehr zur Hauptstadt wird? Gegenfrage: Wie soll diese Aufregung aussehen? Meist hat man doch keine Zeit. Den besten Überblick zum Stadtgeschehen haben die Touristen, die zwei- bis dreimal im Jahr Berlin besuchen. Sie haben keinen Feierabend, den sie ersehnen, keinen Haushalt zu bestellen und nicht von 9 bis 17 Uhr zu arbeiten – kurzum: Sie haben Muße und Gelegenheit, dem nachzuspüren, was Berlin sein kann, nämlich eine chronisch unfertige Stadt.

Aufregend ist jedenfalls nicht der Reichstag, ein Haus, das manche Kinder gern für ein häßliches Schloß halten. Von den Abgeordneten, die in ihm tagen, wird viel erwartet... Daß sie sich beispielsweise in Berlin der rauhen Wirklichkeit stellen, U-Bahn fahren, im Stau steckenbleiben, Kontakt zu Menschen halten, die nichts mit ihrem Milieu zu tun haben, offene Augen haben für die Not und das Elend des Landes, für das Knirschen im Berliner Gebälk und das Chaos des Lebens an und für sich. Sie werden es nicht schaffen. Kaum anders als in Bonn werden sie arbeiten, das darf schon vorher gewußt werden. Wer den parlamentarischen Alltag kennt, weiß, daß es nicht an der Unlust der Abgeordneten lag, wenn sie mit dem sogenannten kleinen Mann nicht ins Gespräch kamen. Sie hatten keine Zeit in Bonn und werden sie in Berlin auch nicht finden.

Aber ist denn gar nichts dran am Begriff der „Berliner Republik“? Jedenfalls ein guter Slogan, um nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß die meisten Regierungsgeschäfte künftig von Berlin aus getätigt werden. Und sonst? Die Bundesrepublik Deutschland ist die Bundesrepublik Deutschland und sonst gar nichts. Mittlerweile vor allem ein Teil der Europäischen Union – und Berlin gibt in ihr eine Hauptstadt unter fünfzehn anderen.

Es kommt vermutlich wie immer auf das an, wie man sich die Welt vorstellen will. Für manche bedeutet Berlin in der Funktion als Hauptstadt eine Aufwertung des nationalen Selbstverständnisses im wiedervereinigten Deutschland. Das hätten sie wohl gern, natürlich. Aber für den gewöhnlichen Berliner zählen derlei Erwägungen, Hoffnungen nichts. Für ihn und sie bedeutet auch das Jahr 2000 keine Apokalypse und keine Zäsur, sondern einfach nur – nächstes Jahr.

Die Inthronisierung als Hauptstadt ist für Nichtmitglieder der politischen Klasse in erster Linie so vorstellbar: Hier leben knapp vier Millionen Menschen, alle Illegalen mitgeschätzt. Und zwar in Bezirken, die Kreuzberg, Schöneberg, Treptow, Pankow oder Mitte heißen. Jeder Berliner Bezirk hat so viele Einwohner wie die meisten Großstädte nicht.

Eine Fahrt von Spandau zum Potsdamer Platz dauert günstigstenfalls eine gute halbe Stunde. Das Gefühl, das die meisten Berliner wohl seit zehn Jahren teilen, ist: Man lebt auf einer Baustelle. In einem Provisorium, von dem niemand sagen kann, wann es fertig wird. Manche Stadtplaner sagen: Nie, Gott sei Dank.

Und genau das findet man hier auch in Ordnung. In Kleinstädten wie, beispielsweise, Stade, Amberg, Pirna, Bad Doberan oder Speyer wird schon die Eröffnung einer neuen Ortsumgehung zum dramatischen Ereignis der Kommunalgeschichte. Hier in Berlin würde sie kaum mehr als eine Notiz in den Lokalteilen der Hauptstadtblätter provozieren. Fährt man mit der Eisenbahn vom Bahnhof Zoo zum früheren Ostberliner Hauptbahnhof (jetzt: Ostbahnhof), kommt man an der größten Baustelle der Stadt vorbei. Rechts am Tiergarten und dem Präsidentenhaus, dann am schlangenförmigen Wohnblock für die Abgeordneten (für den noch kaum Mietverträge abgeschlossen werden konnten); links an der Charité, rechts wieder am Reichstag und besonders eindrücklich an der Bauschlucht, die in Höhe des Lehrter Bahhofs anzeigt, daß hier ein futuristisch anmutender Bahnhof aus dem märkischen Sand gestylt wird. Immer alles vorläufig, natürlich. Schon zwei Wochen später kann alles ein wenig anders aussehen.

Der Reichstag ist fertig. Er hat von außen nichts von Pomp. Er überragt den Rest seiner Umgebung nur unwesentlich. Das Brandenburger Tor gleich daneben wirkt auch nicht gerade wie das Hoheitszeichen einer „Berliner Republik“, die auf die Bescheidenheit der alten Bundesrepublik verzichten will. Wie könnte es anders sein? Nur wenige Meter entfernt, in der Wilhelmstraße, wohnen Menschen, die mit Prominenz nichts zu tun haben. Sie wohnen in einem der jüngsten Plattenbauprojekte der DDR. Dort gibt es normale Einkaufsgeschäfte, Bäckereien, Büroartikelläden, ein Möbelgeschäft. Das kommt wirklich nicht großmächtig daher, im Gegenteil.

Was Berlin vielleicht tatsächlich zur Hauptstadt macht – und qualifiziert – ist möglicherweise ebendies: die Abwesenheit strotzender Symbole. Und die Unmöglichkeit, diese zu installieren. Niemand ist wirklich scharf auf sie – Straßenkredit hat nur, was als große, friedliche Versammlung funktioniert, Christos & Jeanne-Claudes Reichstagsverkleidung zum Beispiel. Und was Berlin zur Hauptstadt macht, ist das zwangsläufige Zusammenleben von Ost und West.

Es gibt Westberliner, die noch nie in Ostberlin waren. Und umgekehrt. Wer neu ist in der Stadt – und es werden immer mehr –, mag die neuen und fertigen Projekte am Potsdamer Platz, schätzt die Friedrichstraße und ihre kühle Eleganz, geht auch gern am Wochenende durch die Viertel um die Hackeschen Höfe. Berliner, die auf Ost- und Westteilung halten, finden dieses Quartier ihrer Stadt abscheulich, zu viele Touristen, heißt es. Als ob nicht gerade dies die Idee der Metropole ist: das eigene Nest zu verlassen, um auf Fremdes zu treffen.

So wirkt Kreuzberg, in den achtziger Jahren noch das Jerusalem der Alternativszene, nicht deshalb so fade, weil es an Armut leidet. Sondern weil es wurde wie, sagen wir, Baden-Baden: inzestuös und dem Neuen gegenüber nicht eben freundlich eingestellt. Wie auch die meisten Menschen in Schöneberg oder Zehlendorf oder in Teilen von Prenzlauer Berg so gestrickt sind: bemüht, ihr Stadtleben etwas übersichtlicher, also provinzieller zu halten. Dennoch genießen sie die Vorstellung, daß ihr Kiez zur Hauptstadt gehört. Sie haben den Reichstag als hauptstädtisches Symbol nötig – janz weit draußen.

Jan Feddersen, 41, ist Redakteur im taz.mag und Neuberliner. In zwei Jahren hat er von 23 Berliner Bezirken 12 besuchen können.