Mesusa soll Unheil abwenden

Im ehemaligen Zentrum des deutschen Judentums, im Herzen der Hauptstadt, residiert seit gestern im Leo-Baeck-Haus der Zentralrat der Juden    ■ Von Barbara Junge

„Zufall“, witzelte gestern einer der anwesenden jüdischen Geistlichen nach der Rede seines Vorsitzenden. „Über Zufall gab es im Ghetto in meiner Heimatstadt einen Witz: Fragt einer auf der Straße einen Mann mit der Pajes, ob er zufällig wüßte, wo die Synagoge sei. ,Ja, zufällig weiß ich das‘, bekam er von dem Mann mit der Schläfenlocke eines orthodoxen Juden zur Antwort.“

Zufällig hat der Zentralrat der Juden in Deutschland gestern am Tag der ersten Sitzung des Bundestags im Reichstag seine Zelte in Berlin aufgeschlagen. „Daß beide am gleichen Tag ihre Eröffnung feiern, ist purer Zufall“, betonte der Vorsitzende des Zentralrats, Ignatz Bubis. „Wir waren an diesem Tag zuerst da, der Bundestag hat sich auf den Termin erst später festgelegt.“

Gestern war der Tag des Neubeginns. Den einen haben die ParlamentarierInnen im alten Reichstag gefeiert, der wieder der Mittelpunkt bundesdeutscher Politik werden soll. Der andere wurde wenige hundert Meter Luftlinie entfernt im früheren Zentrum des deutschen Judentums begangen: Die ehemalige Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in der alten Mitte der Hauptstadt ist seit gestern Sitz des Zentralrats der Juden in Deutschland.

Und kaum war die Eröffnung des „Plenarbereichs im Reichstagsgebäude“ vorbei, hatten Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) und Bundespräsident Roman Herzog (CDU) in der Tucholsky-Straße einen anderen Pflichttermin anzutreten: Die Einweihung des Leo-Baeck-Hauses gemeinsam mit Ignatz Bubis.

„Alles Überinterpretation“, wehrte Bubis engagiert ab, „eine solche Parallele ist für Nicht-Juden vielleicht von größerem Symbolwert als für uns.“ Nicht die Reichstagseröffnung, auch nicht der – nach christlichem Kalender – gestern sich jährende Tag der Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto, gaben den Eröffnungstag vor, darin sollten sich die Historiker auch später nicht täuschen, meinte Bubis. Doch passend war das alles ungeachtet der Abwehr des Zentralratsvorsitzende irgendwie trotzdem. Bubis indes betonte, nicht der Zeitpunkt entscheide, sondern der Ort. „Es hat mehr als 50 Jahre gedauert, daß es in Berlin wieder jüdisches Leben geben würde. Und heute sind wir an diesem Ort, in diesem besonderen Viertel mit seinen früher vielleicht 100.000 Juden, daß nach den Geschehnissen im Dritten Reich ,judenrein‘ war“.

Bundespräsident Roman Herzog erklärte in einem Grußwort an den Zentralrat, die Eröffnung am Tag der ersten Bundestagssitzung im umgebauten Reichstagsgebäude sei ein deutliches Signal. „Lassen Sie uns gemeinsam am neu begründeten Sitz von Parlament und Regierung für ein aktives Miteinander wirken, das geprägt ist von Respekt, Verständigung und von Wachsamkeit, die aus der Erinnerung an die dunklen Seiten der deutschen Geschichte kommt.“

Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) nannte den 19. April einen historischen Tag, „an dem sich Freude über die Gegenwart mit Hoffnung auf die Zukunft mischt, dem die Vergangenheit aber ein nachdenkliches Zeichen verleiht“.

Im Leo-Baeck-Haus, benannt nach dem Lehrer und Theologen, der bis 1942 in jenem Haus gelehrt und den Holocaust nur durch einen „Zufall“ überlebte, wird künftig der Vorsitzende sein Büro einnehmen, ebenso wie die restliche Verwaltung. Auch das Direktorium, die Vertretung der Gemeinden, soll in Berlins Mitte tagen. Und daneben ist die Allgemeine Jüdische Wochenzeitung untergebracht. Kulturelle Veranstaltungen werden auch weiterhin im nahegelegenen Zentrum Judaicum stattfinden.

Gestern herrschte aber noch gähnende Leere im neuen Zentralrat, auch der Parkplatz hinter dem Gebäude eine Berlin-übliche Baustelle. Nur die code-gesicherten Türöffner waren auf allen Etagen bereits an Ort und Stelle. Doch am Nachmittag sollte ein weiterer Schritt für die Zukunft des Hauses getan werden. In Anwesenheit von Herzog, Schily und Diepgen sollte die Mesusa an einem Türpfosten angebracht werden, die traditionelle in einer Kapsel verschlossene Pergamentrolle mit Zitaten aus dem Alten Testament – zum Abwenden von Unheil.

„Daß das Reichstagsgebäude und der Zentralrat am gleichen Tag in Berlin eröffnet werden, ist reiner Zufall.“