■ Türkei: Sieger der Wahl ist die Partei der nationalen Rache
: Anatolisches Wolfsgeheul

Demokratie ist nicht ohne Risiko. Selbst eine unter militärischer Aufsicht, wie die in der Türkei, produziert zuweilen unliebsame Überraschungen. Nach dem Wahlsieg der Islamisten 1995 sind die 18 Prozent für die rechtsradikalen Ultras von der Nationalen Bewegung (MHP) auch aus der Sicht des Hauptquartiers der Armee nun ein neuer Betriebsunfall der türkischen Demokratie.

Wann immer das Militär, der Nationale Sicherheitsrat und der Rest der kemalistischen Elite des Landes glauben, einen Feind besiegt zu haben, tut sich ein Abgrund an anderer Stelle auf. In den 80er Jahren war es die PKK und das Gespenst der Abspaltung des kurdischen Südosten des Landes. Während das Militär auf den Bergen kämpfte, wuchs hinter ihrem Rücken der sogenannte islamische Fundamentalismus heran. Nachdem sie in den 90er Jahren dem Fundamentalismus den Krieg erklärten und jetzt den Stimmenanteil der islamischen Fazilet-Partei tatsächlich wieder drücken konnten, erheben sich nun die Köpfe der längst totgeglaubten Grauen Wölfe.

Das größte Problem der Türkei, sagt der derzeit einflußreichste Schriftsteller des Landes, Orhan Pamuk, ist die nicht funktionierende Demokratie. Politik in der Demokratie lebt vom Kompromiß und einem friedlichen Interessenausgleich. In den beiden wichtigsten innenpolitischen Fragen des Landes haben die Militärs dies verhindert. Der Islam wird ausgegrenzt, und Politiker, die versucht haben, mit der kurdischen Minderheit zu einem Kompromiß zu kommen und den Frieden durch Angebote kultureller Autonomie wieder herzustellen, wurden vom Militär zurückgepfiffen. Der Kampf wurde kompromißlos und blutig geführt. Dafür wurde der türkische Nationalismus jahrelang geschürt. Jetzt, wo Öcalan auf Imrali sitzt und auf seinen Prozeß wartet, spült der Haß auf die PKK die Partei der Rache, die MHP, nach oben. Die meisten der in den Bergen verheizten Soldaten kommen nicht aus der Mittelschicht Istanbuls oder Izmirs, sondern aus den anatolischen Dörfern, die jetzt die MHP gewählt haben. Die Botschaft dieser Wahl ist: Öcalan soll hängen.

Den Militärs geht es wie dem Zauberlehrling, dem seine Geister über den Kopf wachsen. Der Krieg im Kosovo hat den nationalen Furor weiter angefacht. Das sind, wie die MHP sagt, schließlich unsere Leute, die dort umgebracht werden. Vor diesem Hintergrund kann Solidarität leicht in Aggressivität umschlagen. Das Verhältnis zu Griechenland, für die MHP sowieso eine einzige PKK-Basis, wird nach dieser Wahl noch schriller werden. Wenn die Griechen sich jetzt auf die Seite ihrer orthodoxen Brüder in Belgrad stellen, könnte die Sache durchaus aus dem Ruder laufen.

Diesen überschießenden Nationalismus wieder einzudämmen, wird die Militärs einige Mühe kosten. Für Ecevit, der mehr oder weniger in ihrem Auftrag handelt, ist es mit dem vorliegenden Wahlergebnis nahezu unmöglich, eine Regierung zu bilden, die die Islamisten heraushält und gleichzeitig den Schaden des überbordenden Nationalismus begrenzt. Für die Wunschkoalition mit Mesut Yilmaz reicht es nicht, und als weitere Partner stehen nur die unmögliche Tansu Çiller, die Islamisten oder die Rechtsradikalen zur Verfügung.

Was macht man in solchen Fällen? Man fordert das Volk auf, den Betriebsunfall zu korrigieren. In diesem Szenario wird es erneut eine Minderheitsregierung geben, die nach einem guten Jahr abermals Neuwahlen erforderlich machen wird. Da es nach dieser Wahl genügend Verlierer gibt, findet sich vielleicht eine parlamentarische Mehrheit für diese Lösung. Zuvor wird man versuchen, das Wahlsystem nach französischem Vorbild umzubauen, um dem Wähler gleich die Gelegenheit zu geben, im zweiten Wahlgang den – vernünftigen – Kandidaten zu wählen. Die Militärs wollten schon vor dieser Wahl ein zweistufiges System, scheiterten aber an den divergierenden Machtkalkülen von Mesut Yilmaz und Tansu Çiller. Die haben nun beide nicht mehr viel zu melden, und deshalb werden jetzt wohl die Sicherungen eingebaut, um einen nochmaligen Betriebsunfall möglichst ausschließen.

Es ist aber auch nicht völlig ausgeschlossen, daß sich alle Underdogs der türkischen Politik zusammenschließen und eine MHP-Fazilet-Çiller-Regierung bilden. Das läuft dann solange, bis die Militärs wieder alle vom Platz stellen. Jürgen Gottschlich