Die lange Nacht von Detmold

■ Wie der Autor vom normalen Erdenbürger zum Netizen wurde und ein Volk virtueller Bekanntschaften um sich scharte / Eine eher emotionale kurze Einführung in die Welt der neuen Netze / Zweite Lieferung: Die Entdeckung des Chattens

Zur Erinnerung: Ja, ja. Männer sind so. Sie wollen immer nur das eine, und auch der Autor wollte nur das eine, und das eine war: die vielen nützlichen Eigenschaften der neuen Netze zu erkunden. Die Online-Telefonauskunft ( www.teleauskunft.de ). Oder Pathfinders Fahrt über die Marsoberfläche ( www.nasa.gov ). Oder Satellitenaufnahmen von Bremen oder dem Kosovo ( www.terraserver.com ). Doch ganz zufällig entdeckte der Autor, der immer häufiger immer längere Abende und Nächte vor dem Computer verbrachte, auch andere Seiten von Internet und Co. Immer mehr Menschen nämlich ergänzen oder ersetzen ihren Bekanntenkreis aus dem echten Leben durch virtuelle Bekanntschaften. Und er war bald einer von ihnen.

Ein milder Frühlingswind wehte durch das halb geöffnete Fenster, als ich zum ersten Mal süchtig zu werden begann. Schuld daran waren eine Tätigkeit namens Chatten und genau genommen das ZDF. Denn wie im wirklichen Leben ist auch in den neuen Netzen der erste Schuß oft kostenlos. Und das Zweite Deutsche Fernsehen hat ihn mir gesetzt. „Nach der Sendung können Sie mit den Redakteuren chatten“, begann der Moderator der WISO-Sendung seine Absage, und ich hatte noch gar keine Ahnung, was das ist. Aber ich war neugierig.

So dauerte es nicht lange, bis ich auf der WISO-Seite der ZDF-Homepage gelandet war und mit den Redakteuren chatten wollte. Das ging aber nicht. Zum Chatten (Schwätzen, Plappern) brauchte man damals nämlich ein besonderes Programm (mit Browsern wie dem Internet-Explorer 4 aufwärts oder Netscape 5 und höher kann man auch ohne Zusatzprogramm auf Webseiten wie www.friends-online.com chatten). Das ZDF wies mir den Weg zum kostenlosen Download eines Chat-Programms, und durch diese Mischung aus Abweisung und Angebot war es um mich geschehen: Ich hätte jetzt alles dafür getan, an ein Chat-Programm heranzukommen. Selbst einen zweistündigen Dateidownload hätte ich in Kauf genommen.

Tatsächlich dauerte der Download nur eine Stunde und 50 Minuten. Und als ich das Chat-Programm endlich zum Laufen gebracht hatte, lagen die Redakteure der WISO-Sendung längst im Bett (oder saßen an ihrem heimischen Computer, um heruntergeladene Programme zum Laufen zu bringen). So verpaßte ich die Gelegenheit, mit echten WISO-Redakteuren über die Vorzüge der linearen Abschreibung von abschreibungspflichtigen Arbeitsmitteln zu plaudern und sollte sie auch nie mehr nutzen. Denn solche Themen gelten unter Chattern als unchatgemäße Themen, wie ich bald in einem Forum namens German_Chat auf dem Microsoft-Server erfahren sollte. Die Vögel zwitscherten draußen zwar schon, als ich mich endlich angemeldet hatte. Aber ich hatte es geschafft. Franz – so nannte ich mich – wurde Chatter.

Kurt Cobain > Hallo Franz, willkommen bei German_Chat

Huch? Was war das? Jemand hat mich angesprochen. Ich war erstaunt. Und nervös. Und ich tippte schüchtern meine ersten Zeichen. Hallo Kurt Cobain. Ich bin neu hier und muß mich erstmal umsehen. Kurt Cobain schickte mir als sogenanntes Emoticon ein verständnisvolles Grinsen zu: ;-).

Und ich habe mich umgesehen. Ich fand heraus, daß Kurt Cobain ein Gastgeber (oder auch Chatmaster) war und das Recht hatte, Leute rauszuschmeißen. Ich merkte schnell, daß Co-Gastgeberin Sabine rund um die Uhr am Computer sitzen mußte und daß sich Dauerchatter einmal im Jahr zu Real-Life-Treffen in Hannover, Nürnberg oder Detmold verabreden und sich danach Fotos davon mailen. Von Schüchternheit war bald keine Spur mehr, ich entdeckte Nebenzimmer und die Flüstertaste und chattete munter in Gesprächen wie dem folgenden mit.

pille: hi

tania: rehi Pille

k8: hallo tania

philipp_23: hi tania, wo kommst denn du her?

der_wolf: hallo tania, sollen wir uns nicht mal in ein Nebenzimmer verziehen *grins*

tania is away

der_wolf: Mist, weg ist sie

k8: sind denn jezz gar keine frauen mer hier?

Zombie: Doch Du, Du Schwuchtel!

Der Chatmaster hat Zombie aus dem Raum gewiesen

pille: das wurde aber auch Zeit

philipp_23 schiebt k8 mal ein Bier rüber

k8 bedankt sich artig und sacht prösterchen

pille: haste auch eins für mich?

philipp_23 schiebt auch pille ein Bier rüber

pille sagt danke und prost. Auf Tania!

k8: auf Tania!

Tania blieb nicht für immer fort. Tania holte sich nur ein Glas echten Weins aus dem Kühlschrank. Das wußte ich ganz genau. Denn ich selbst war Tania. Und Tania sollte schon bald wiederkommen, um fürchterliche Rache zu nehmen.

Christoph Köster

Lesen Sie (oder darf ich schon Du sagen?) in der nächsten Folge, wie man in den neuen Netzen den Hyde in sich entdecken kann