Was ist Realitätssinn?

■ Kalter Krieg bei Bremer Grünen: Statt des lange versprochenen Pack-zu-Wahlkampfauftakts wurde nach Streiten der Kosovo-Nato-Einsatz abgesegnet

Knapp und flott hechteten Hucky Heck und Helga Trüpel zum Wahlkampfauftakt durch die Schlüsselthemen beim Streit um die Wählergunst. Guter Grund: „Diiiieser Krieg.“ Nachdem ihnen – nicht immer zu recht – feige Diskursverweigerung vorgeworfen wurde, trauen sich die Bremer Grünen nun in der Öffentlichkeit zu streiten und erkennen, „daß es uns ehrt, daß wir mit unseren Zweifeln so umgehen, wie wir es tun“, daß es keinen Sinn gibt „sich hinter Entschlossenheit zu verstecken“. Trotz wohltuendem Bekenntnis gegen Geschlossenheit kam es – logo – nach aufgewühltester Diskussion zu einem Entschluß. Die kürzlich vorgestellte Vorlage des Landesvorstands (Kummerow, Heck, Hutter, Fücks) wurde, nein, nicht bequem abgenickt; man rang sich mühsam dazu durch. 41 x Ja, 24 x Nein, 4 x Enthaltung. Als Signal nach Bonn geht: Ja zum Nato-Kampfeinsatz, Ja zu Fischers Friedensplan, allerdings mit 24-Stunden-Waffenstillstand OHNE Vorbedingungen; Reform des UN-Sicherheitsrats, um solch unselige NATO-Eigenmächtigkeiten zu verhindern; Jein zu einer UCK-Unterstützung; Nein zu Bodentruppen. Also doch einer dieser problematischen Kompromisse mit dem superproblematischen Beigeschmack, daß Engagement schon okay geht, solange kein deutsches Soldatenblut fließt. Nach redlicher Diskussion – schaler Geschmack.

Dennoch: Die Häme vieler Zeitungsberichte und mancher CDU-Recken gegenüber angeblich wendehälsigen Grünen ist unbegründet. Niemand hat hier pazifistische Positionen revidiert aus schnöden machtstrategischen oder anzugtechnischen (Armani) Gründen. Alles ist komplizierter. Wohl kein Grüner meint, diesen Krieg entlarven zu müssen als Komplott der Waffenindustrie oder Ausleben geostrategischer Interessen. Jedem ist klar, daß es gute Gründe für den Einsatz gibt. Allerdings auch ebensolche dagegen. Und auch die Einsatz-Gegner müssen sich immer seltener zur Wehr setzen gegen dies dummdreiste Totschlagargument, sie litten unter ideologischer, moralinsaurer Verblendung. Beim prognostizieren von Milosevics Durchhaltepower bewiesen manche Kriegsgegner mehr Realitätssinn als etwa taz-Reporter Rathfelder. So beherrschten verschlungene Satzkonstruktionen den Diskurs wie „obwohl eigentlich ... kommt man dennoch nicht umhin“ oder „natürlich hätte ich ... aber weil ... sollte doch“. Verständnis statt blöder Diffamierungen zwischen Ja- und Neinsagern. Natürlich wurden alle einschlägigen Argumente touchiert: vorschnelle Anerkennung rassistischer Prinzipien Ende der 80er; Vertreibung von Albanern schon vor Nato-Angriff; Rußland; Ausweitungsgefahr; was macht unser Menschenrechts-Joschka eigentlich gegen das Kurdenmetzeln? Und natürlich hilfloses Spekulieren über die black box Rambouillet. Ralph Fücks vogelwilde These: Der taz-Abdruck des legendären „Annex B“ würde sich auf Englisch viel weniger nach Besatzungsstatut anhören als auf Deutsch – als hätten sich Deutsche mit Amis einigen müssen; als hätte man nicht vor allem darauf zu achten, wie Sätze in serbischen und albanischen Ohren klingen.

Erstaunlich: Obwohl die Grünen sich mutig in das schmerzhafte Gestrüpp des Für und Wider begeben, meinen dann doch immerhin 41 + 24 Menschen bestens Bescheid zu wissen. Nur vier halten es mit Sokrates: Ich weiß, daß ich in diesem Fall nichts wissen kann. Vielleicht wird man trotzdem mal journalistische und politische Mechanismen entwickeln, die vor Falschmeldungen schützen und öffentliche Verhandlungen statt eitler Geheimdiplomatie fordern.

Ach ja, die Bürgerschaftswahlen: In Anbetracht Henning Scherfs Umarmungsbereitschaft thematisierte man natürlich jene große Koalition, „die die Sanierungsmilliarden rausschmeißt und sich gegenseitig auf die Schultern klopft“. Doch mit 10.000 verlorenen Arbeitsplätzen „ist das Klima besser als die Lage“. Statt neun Milliarden Mark aus Bonn und 1,6 Milliarden Mark Tafelsilberserlöß in Großprojekte wie Einkaufsmalls zu versenken, wolle man den Mittelstand oder innovative Energieträger fördern. „Gemeinhin gelten Große Koalitionen als Notlösung – hier in Bremen scheint das anders zu sein.“ Doch die schönste SPD-Beschimpfung des Abends: „Die SPD leidet an einer krankhaften Angst, als wirtschaftsfeindlich abgestempelt zu werden.“ Schön, wenn man das den Mehrwertsteuererhöhern und Lohndisziplin-Mahnern der eigenen Partei nach Berlin zurufen würde. Barbara Kern