Einsam in eigentümlicher Welt

Neben der Lepidopterologie begeisterte sich der russische Schriftsteller Vladimir Nabokov, dessen Geburtstag sich morgen zum 100. Mal jährt, auch für das Schachspiel  ■ Von Hartmut Metz

Die thematische Hauptidee für seinen Schachroman „Lushins Verteidigung“ reifte bei der Schmetterlingsjagd in den Pyrenäen. Spötter verblüfft das wenig, seien doch Vladimir Nabokovs zwei Steckenpferde, Lepidopterologie und Schach, ähnlich spannend. Der Russe, der seine Geburt vor 100 Jahren in St. Petersburg auf den 23. April (10. April nach gregorianischem Kalender) datierte, weil auch William Shakespeare und Shirley Temple an diesem Tag geboren wurden, verdankt einem einzigen Roman seinen Weltruhm: „Lolita“. Bis 1955 mußte der Literaturprofessor warten, ehe ihm der Durchbruch gelang. In seiner neuen Heimat, den prüden USA, handelte sich Nabokov vier Absagen ein, ehe der halbseidene Pariser Verlag Olympia Press die Skandalgeschichte über das minderjährige Nymphchen zum Erfolg führte. „Lolita ist berühmt, ich nicht. Ich bin ein obskurer Romanschreiber mit einem unaussprechlichen Namen“, befand Nabokov danach.

Der Sproß einer reichen Aristokratenfamilie, der von 1920 bis 1936 in Berlin lebte, hatte aber auch schon vorher geniale Stücke verfaßt. Oft durchzog sie ein schachliches Thema. Höhepunkt nach dem Gedicht „Der Schachspringer“ und dem von der Kritik noch bescheiden aufgenommenen „König, Dame, Bube“ war 1930 „Lushins Verteidigung“. Ein Meisterwerk, das die psychologische Tiefe des königlichen Spiels begreift wie kein zweites. Iwan Bunin, Literatur-Nobelpreisträger 1933, schrieb beeindruckt: „Dieser Junge hat sich ein Gewehr gegriffen und die ganze ältere Generation erledigt, mich eingeschlossen.“

Der sportliche Nabokov verdingte sich in den kargen Jahren als Tennisspieler. Kaum weniger enthusiastisch frönte er dem Fußball. Er sei ein „launenhafter, aber ziemlich spektakulärer Torwart“. Doch Schach schätzte der Autor mit dem Pseudonym W. Sirin am meisten. In der Berliner Tageszeitung Rulj publizierte S. Rewokatrat, wie der Schriftsteller manchmal mit dem von rückwärts gelesenen Namen des populären Schachmeisters Savielly Tartakower unterschrieb, eine regelmäßige Spalte mit Schachrätseln. An den Problemkompositionen schätzte Nabokov wie an „erstklassigen Romanen“ das Duell mit dem Löser, den man auf „falsche Fährten“ lockt, „trügerische Lösungswege, mit Scharfsinn und Liebe entworfen“, anbietet, um ihm am Schluß ein überraschendes Finale zu präsentieren.

Im Badezimmer des Jubilars stand neben der Toilette immer ein Schachspiel. Stets bereit, die nächtelang ersonnenen Zwei- und Dreizüger zu überprüfen. 1970 brachte Nabokov dann sogar einen Band heraus mit Gedichten und Schachaufgaben, „Poems and Problems“. Prinzipien des Schachspiels beinhalten auch Bücher wie „Nikolaj Gogol“, „Das wahre Leben des Sebastian Knight“, der nicht umsonst den Nachnamen für den englischen Ausdruck des Springers trägt, bis hin zum letzten Werk „Ada oder das Verlangen“.

In „Lushins Verteidigung“ hielt Nabokov Reiz und Wahn, Faszination des königlichen Spiels sowie die Gefahr, einsam in einer eigentümlichen Welt zu versinken, fest. Der bereits mit 20 bei Turnieren erfolgreiche Lushin strebt nach „Einfachheit, harmonischer Einfachheit, die mehr als die komplizierteste Magie in Erstaunen setzte“. Vergebens wehrt sich der Held gegen Eindringlinge in sein Schachuniversum. Als sich ihm auftut, daß sein Leben eine einzige große Schachpartie ist, in der er die Regeln nicht bestimmt, bleibt nur noch der Sprung aus dem Badezimmerfenster. Lushins Verteidigung hinab in einen Abgrund dunkler und bleicher Quadrate. Die Retter schlagen zu spät die Tür auf. „Alexander Iwanowitsch, Alexander Iwanowitsch, brüllten mehrere Stimmen. Doch da war kein Alexander Iwanowitsch.“

„Stellen Sie sich vor“, schrieb Nabokov, „Sie wären Schriftsteller und ein Engel würde auftauchen und Ihnen sagen, das ist ein wirklich guter Roman, aber Sie müssen ihn noch einmal schreiben, damit die Moral hineinpaßt. Wissen Sie, was Sie dann tun müssen? Ihre Pistole herausholen und ihn erschießen.“ Als ihm am 2. Juli 1977 in Montreux sein Todesengel erschien, fand er die Pistole nicht schnell genug. „Vladimir Vladimirowitsch, Vladimir Vladimirowitsch“, brüllten mehrere Stimmen. Doch da war kein Vladimir Vladimirowitsch – nur seine Bücher.