■ Schlagloch
: Von Goethe zu Gysi Von Nadja Klinger

„Für eine unkritische Idealisierung des Menschen Goethe besteht kein Anlaß mehr.“ Roman Herzog, April 1999

Es gibt Nachrichten, die erscheinen auf Zeitungsseiten so wie Gregor Gysi kürzlich in Belgrad. Aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgerissen, tauchen sie unvermittelt in einem anderen Kontext auf und hocken sich mitten hinein ins Geschehen. Hier plustern sie sich auf, was lächerlich ist, zuweilen peinlich, mitunter gar heikel.

Wie sich der PDS-Fraktionsvorsitzende aus seinem Anzug herausstreckte und zu Slobodan Milošević aufschaute, war vor allem komisch. Später, als er den Journalisten Bericht erstattete wie von einem Einsatz an der Front, als er die Regungen beschrieb, die sich während des Gesprächs durch das Gesicht des jugoslawischen Präsidenten geschlichen hatten, wurde es peinlich. Genaugenommen aber ist in Zeiten wie diesen, da die Ereignisse schwer wiegen, die Botschaft von der „Friedenslogik“, die Gysi mit in das kriegführende Deutschland gebracht hat, heikel.

Als erstem war das dem Bundeskanzler anzumerken. Bei Gerhard Schröder schlichen sich plötzlich ebenfalls Regungen ein. Mitten in der Zeremonie seiner zweiten Regierungserklärung zum Krieg beschimpfte er die PDS. Auch der staatsmännische Außenminister konnte in Gregor Gysi nichts als einen Eindringling in die Angelegenheiten der Regierung erkennen. In seiner heftigen Abwehr des Angriffs war er für ein paar Minuten wieder unser Joschka. Und erst die Tränen, die der Verteidigungsminister während seines Wutausbruchs im Bundestag gerade noch zurückhalten konnte! Sie gerannen an Rudolf Scharping zu einem unerwartet interessanten Profil.

Kaum war also der PDS-Fraktionsvorsitzende mit seinem Besuch in Belgrad politisch fehlgetreten, zogen alle wesentlich Betroffenen daraus schon ihren Nutzen. Hatte man nach über zwei Wochen fragwürdigen Krieges auf eine derartige Gelegenheit gelauert? Wohl nicht. Außerdem tat Gregor Gysi nichts Außergewöhnliches. Nichts, was die anderen nicht auch tun, um den politischen Antworten, die sie geben, die richtigen Fragen zu verpassen. Natürlich trieb die Ablehnung der Nato-Bombenangriffe den Fraktionsvorsitzenden der kleinen deutschen Oppositionspartei zu Milošević. Zudem aber mußte er für seine Aktion alle Umstände im Balkan, die einem die Logik eines Krieges aufzwingen, ignorieren. Er folgte damit dem gängigen Prinzip der Meinungsbildung: sich aus allen Zusammenhängen lösen, unvermittelt am Schauplatz auftauchen und sich mitten hineinhocken ins Geschehen.

So wie Roman Herzog. Der Bundespräsident forderte dieser Tage eine kritische Sicht auf das Leben Goethes. Denn neuere Forschungen, so Herzog, bestätigten die alte – und in Goethes Fall besonders ernüchternde – Erkenntnis, daß es den idealen Menschen nicht gebe. Als Mitglied des Geheimen Konziliums des Weimarer Herzogs Carl-August soll der Dichter für die Vollstreckung der Todesstrafe an einer Kindsmörderin plädiert haben. Er soll Professoren und Studenten an der Universität Jena bespitzelt haben lassen, für die Entlassung des Philosophen Johann Gottlieb Fichte gesorgt und zudem Schriftstellerkollegen in Verzweiflung und Untergang getrieben haben. Zur Beerdigung von Friedrich Schiller, den er seinen Freund nannte, obwohl er ihn lediglich beneidet und verachtet haben soll, ist er nicht erschienen. Johann Wolfgang Goethe war in Weimar als Säufer bekannt und soll sich auch darum gedrückt haben, seiner in Schmerzen liegenden kranken Frau in den Tagen vor ihrem Tod beizustehen. Allein der Gedanke an Demokratie, berichtete Roman Herzog gar, soll ihm Furcht eingeflößt haben. „So groß sein Werk auch ist und bleibt: Für unkritische Idealisierung des Menschen Goethe besteht also kein Anlaß mehr“, fügte der Bundespräsident hinzu.

Ein Fernsehteam begab sich daraufhin an jenen Ort, von dem zu vermuten war, daß die Forderung Herzogs hier eingeschlagen hatte wie eine Bombe. Viele der auf den Straßen von Weimar befragten Bürger blickten dann auch so weinerlich in die Kamera wie Rudolf Scharping während besagter Bundestagsdebatte. „Man gönnt uns unseren Goethe nicht“, meinten die Leute und trabten, in ihrer Abneigung bestätigt, selbstzufrieden davon. Andere waren zornig wie Joschka Fischer und kündigten an, daß sie sich „den Goethe nicht wegnehmen lassen“ würden. Sie wirkten kämpferisch, diese Weimarer. Richtig stark, irgendwie attraktiv.

Keiner der Befragten sprach allerdings davon, daß er mit dem Idealisieren gar nicht aufhören könne, weil er persönlich es nie betrieben habe. Um so zu reagieren, müßte man Herzogs Worte einmal genau bedenken. Das aber hat nicht einmal der Bundespräsident selbst getan. Ansonsten hätte er doch bemerkt, daß bei derart aufrichtiger Prüfung der Ereignisse zwar das Werk Goethes, jedoch kaum etwas vom Kulturstadtrummel in Weimar übrigbleiben würde. Sonst hätte er sich doch nicht in den Rummel um den 250. Geburtstag hineinbegeben und sich mit seiner Forderung zwischen die Ereignisse gehockt. Denn hier ist sie so absurd wie alles um sie herum.

So absurd wie auch die Antworten sind, die der Bundespräsident bekommt. „Schriftsteller können mich privat nicht enttäuschen, weil sie mich privat nicht interessieren“, schreibt Hellmuth Karasek im Tagesspiegel. Dabei steht in derselben Zeitung etwas, was ihn schon interessieren sollte: Der Schriftsteller Erich Loest will mit seinen Kollegen einen „Kriegskongreß“ veranstalten, da sie alle „genauso zerrissen wie die Bevölkerung“ seien. Vielleicht könnten sie „mit ihrem Wort“ die diplomatischen Bemühungen um ein Ende des Krieges in Jugoslawien unterstützen. Außerdem wird im Tagesspiegel darüber berichtet, daß sich in Berlin die Aktion „Schriftsteller gegen den Krieg“ für honorarfreie Lesungen und Diskussionen zur Verfügung stellt.

Ungeachtet des Krieges sind die Schauplätze in unserem Land ohnehin gnadenlos persönliche Orte. Ob in Kunst oder Politik, die Fragen nach dem Privatleben sind wesentlich. Ost oder West? Mann oder Frau? Erste oder vierte Ehe? Frau mit Kind? Frau mit Kinderwunsch? DDR-Bürger mit Vergangenheit? Bürger mit Erfahrung? Niemand ist in der Öffentlichkeit das, was er sein will. Keinen läßt die Öffentlichkeit, wie er ist. Als Gabi Bauer vor gut einem Jahr das Angebot bekam, die „Tagesthemen“ zu moderieren, erbat sie sich Bedenkzeit. Über den Traumjob mußte sie keine Minute nachdenken, erzählt sie, sondern darüber, ob sie fortan eine Person sein will, deren Privates von öffentlicher Bedeutung ist.

Und was meint Hellmuth Karasek, den das Private nicht interessiert? „Ich würde jungen Leuten sagen: Mach alles so wie Goethe! Wenn du nur dann so gut schreiben kannst wie er.“ Finden wir das lustig? Peinlich? Heikel? Sagen wir's mit Roman Herzog: Für eine derartige Herangehensweise besteht kein Anlaß mehr.