Der sezierte Blick

■ Begehren und Kino: Morgen wäre Vladimir Nobokov 100 geworden. Das Abaton zeigt Filmadaptionen seiner Romane

Der Himmel hat sie sicher nicht geschickt. Und für die wahre Hölle ist sie noch zu klein. Geschöpfe wie sie sind dem Blick der Triebgestauten entstiegen, die nur in der Miniatur begehren, was sie sonst aus tiefster Seele hassen: die kleine Frau, das Mädchen. „Nicht menschlich“, sondern „dämonisch“ sind sie, die Nymphchen mit den wippenden Röckchen und den direkten Blicken. Ihren bösen Zauber erkennen „nur Künstler und Wahnsinnige“, schreibt Humbert Humbert, von der eigenen Betrachtung durchaus hingerissen – und zählt sich flott zur ersten Kategorie.

Wie viele Verkannte sitzt Humbert Humbert in diesem Moment in Nabokovs Lolita im Gefängnis, zeichnet sein Leben auf und sonnt sich dabei in den Strahlen einer erbärmlichen Hybris. „Blaß und besudelt“ hingegen sah Lolita aus, als Humbert sie nach langer Suche wiedersah, notiert er und meint „verheiratet und schwanger“. Doch das Schickliche und das Anstößige liegen nun einmal in enger Nachbarschaft. Nicht nur in der verschwitzen Wahrnehmung eines Pädophilen, der zerstören muß, was er besitzen will. Sondern auch in einem Amerika der 40er Jahre, das seine Wirtschaftsmacht auf strengen Puritanismus stellt. Seine Symbole können die unterdrückten Wünsche nicht verbergen: Lollipops, Hula-hoop-Reifen und herzchenförmigen Sonnenbrillen verheißen in ihrer Benutzung willkommene Zweideutigkeit. Humbert Humbert nimmt die Illusion beim Wort.

Und Regisseur Adrian Lyne tut es auch. Seine Lolita aus dem Jahr 1997 bleibt ein Oberflächenspuk. Keine Spur von jenem meisterlichen Schwanken zwischen Farce und bitterlichem Abgrund, der nicht nur pädophile Grauschläfen mit verschwitzten Blicken anzieht, sondern eine gesamte Kultur, die die Lust mit einer sexuell aufgeladenen Ikonographie des Konsums vertröstet. Lyne interessiert keine Kulturpsychologie und noch nicht einmal die Seelenverwandschaft von Begehren und Kino. Dem Regisseur von Eine verhängnisvolle Affäre und 9 1/2 Wochen geht es nicht um das innere Gefüge emotionaler Kriegsführung, sondern um Pikanterien. So schaut Lyne wie Humbert Humbert. Seine Lolita-Adaption ist Humberts beschlagener Traum.

„Kopulierender Klischees“ gab Vladimir Nabokov, der am 23. April 100 Jahre geworden wäre, einmal als Kriterium für Pornographie an, nachdem seine Literatur hartnäckig der Sittenwidrigkeit beschuldigt wurde. Einen Vorwurf, den er mit den Anfängen des Kinos teilt. Nabokovs meisterhaftes Sezieren von Schaulust und Begehren, von Bild und Abbild, von zerstörerischen Phantasien und Selbstauflösungen liefert wunderbaren Stoff für Leinwandillusionen.

Auch Rainer Werner Fassbinder entdeckte Nabokovs filmische Qualitäten und setzte 1977 Eine Reise ins Licht (Drehbuch von Tom Stoppard) in Szene. Hier sieht sich Hermann (Dirk Bogarde) selbst zu. Vor allem wenn er mit seiner Frau (Andrea Ferreol) schläft. Sein Leben als Schokoladenfarbrikant langweilt ihn. Ein neues soll her. Hermann kauft sich die Identität eines anderen, den jedoch nur er für ähnlich mit sich selbst hält. Der Rest der Welt sieht den Schwindel sofort.

Fassbinder läßt das Spiel mit demselben, dem Gleichen und dem Anderen als ein Vexierspiel für den politischen Opportunismus in der Weimarer Zeit aufgehen. Es wimmelt vor blitzenden Glaswänden, Wasseroberflächen, Spiegelkabinetten und figurenspiegelnden Achsensprüngen. Und wenn Bogarde als Verfolgter ein bißchen wie Humphrey Bogart aussieht, setzt Fass-binder auch die Leinwand als Spiegel für die eigenen Mythen ein. Das Kino als Double. Und als eine Reise durch den Projektor ins Licht.

Birgit Glombitza

Eine Reise ins Licht: Do, 22. April, 17.15 Uhr und 22.45 Uhr. Lolita : Do, 22., 20 Uhr; Do, 28. April, 17.15 Uhr