Das große Staunen über die Lichtkathedrale

Gestern öffnete der Reichstag sein Portal für die Öffentlichkeit. Vor den Toren herrschte kollektive Übereinstimmung wie zuletzt 1995 zu Christos Verhüllung, drinnen sorgten das Reichstagsblue, der Hammelsprung und die riesige Glaskuppel für Begeisterung  ■   Von Annette Rollmann

Die junge Frau im roten Minirock lehnt sich über die Brüstung, schaut nach unten in die tiefen Schluchten der Stadt. Da, wo die Menschen nur noch wie Miniaturen wirken, die Autos wie Spielzeuge aus dem Kinderzimmer und die Krähne über Ostberlin ihre Macht von Größe und Höhe verloren haben. „Toll“, sagt sie zu ihrer Freundin. „Das ist der beste Ausblick in ganz Berlin.“ Sie staunt, und der Wind fegt durch die braunen langen Haare, während sie dort, hoch oben, auf der Dachterrasse des Reichstagsgebäudes steht.

Ihre Augen wandern über die Hochhäuser am Potsdamer Platz, die Brache daneben – wo später einmal das Holocaustdenkmal gebaut werden soll – rüber zum Berliner Dom. Sie schaut lange, genießt und schweift mit dem Blick in die Ferne, so wie es noch 20.000 weitere Augenpaare an diesem Tag tun werden. Nach seiner Einweihung am Montag hatte gestern der Reichstag das erste Mal seine Türen für die Öffentlichkeit geöffnet, bis Sonntag wird das Haus für die Bevölkerung zu besichtigen sein. Der Besucherdienst des Bundestages rechnet bis Sonntag mit 100.000 Besuchern.

Schon morgens um halb zehn bilden sich vor dem Portal lange Schlangen, selbst in der Parkanlage zwischen Reichstag und Brandenburger Tor kommt man nicht mehr voran. Am Morgen warten die Menschen eine Stunde, später erhöht sich die Wartezeit auf über zwei Stunden.

Doch es gibt Dinge zwischen dem Himmel über Berlin und dem steinernen Wallot-Bau aus dem vorherigen Jahrhundert, die sind unergründlich: Wie schon bei der Christo-Verhüllung 1995 herrscht in dem kleinen Park vor dem Reichstag den ganzen Tag über eine friedliche, fast prosaische Stimmung. Und auch das Typische eines solchen Festes, etwa der obligatorische Leierkastenmann, der die Waisen „Berliner Luft“ und „Unter den Linden“ spielt, oder die Bude mit der Chinapfanne aus dem Wok, machen daraus keinen Rummel. „Das ist faszinierend, wie die Berliner die Institution Reichstag annehmen“, sagt die grüne Fraktionschefin Renate Künast mit einer Bratwurst in der Hand an einem der zahlreichen Imbißstände. „Die Leute sind doch Klasse, die halten hier ein Schwätzchen in der Schlange oder lesen stehend ein gutes Buch. Die werden staunen, wenn sie erstmal die Kuppel gesehen haben.“ Wenige Meter weiter am Brandenburger Tor hat ihre Partei einen Stand aufgebaut. „Wenn Berlin auf der Straße ist, sind wir es auch.“

Im Reichstag selbst schieben sich die Massen im Schrittempo nach dem Betreten des Foyers am Plenum vorbei. Aus dem Traum, einmal auf Kanzlers Stuhl zu sitzen, wird leider auch an diesem Tag nichts. Das Volk muß draußen bleiben und kann nur durch die Glastüren einen Blick in das „Innere der Demokratie“ werfen. Das „Reichstagsblue“ der Abgeordnetensitze wird ausführlich kommentiert, und die für den Hammelsprung vorgesehenen Türen wekken Begehrlichkeiten. „Einmal möchte ich da durch gehen“, sagt ein Jugendlicher, um seine Meinung kurz darauf dann doch lieber wieder zu revidieren. „Politiker sein, ist eigentlich ein Scheißjob. Da kann man keine Verantwortung mehr auf andere abschieben.“ Dann wird er von der Masse schon weiter geschoben.

Im Trippelschritt gehen die Menschen auf roten Läufern geführt ins nächste Stockwerk auf die Präsidialebene, dort, wo die Bundestagspräsidenten ihre Büros haben. Ständig ergeben sich neue Perspektiven in das Innere des Baus aus Glas und Sandstein, bis über mehrere Stockwerke hinweg. „Der Architekt hat Altes mit Neuem verbunden, und alles ist angenehm schlicht“, findet eine Frau, die Historikerin ist. „Daß der Bundestag nach Berlin umgezogen ist, ist die einzige richtige Konsequenz aus der Politik der Wiedervereinigung.“ Dann führt der Läufer, an dessen Rändern schwarzrotgold gespannte Kordeln den Besuchern den Zutritt jenseits des Teppichs verwehren, an den kyrillischen Inschriften der russischen Soldaten vorbei, die sie beim Sieg über Berlin 1945 an die Wände geschrieben hatten. „Was haben Sie gewollt? Das hier haben Sie bekommen“, übersetzt ein Russe, der sich ebenfalls in der Schlange voran schiebt. Ein Treppenhaus weiter heißt es: „Ruhm den Helden der bewaffneten Kräfte, die beim Sieg über Berlin mitgemacht haben.“ Der Architekt Foster wollte die Relikte der Geschichte nicht aus dem Bau verbannen, statt dessen hat er sie mit dem Umbau wieder sichtbar gemacht.

Schließlich führt der Weg auf das Dach. Dorthin, wo in der Höhe die Kuppel thront, der „Dom der Demokratie“, der schon jetzt vielen Berlinern als neues Wahrzeichen der Hauptstadt gilt. „Wunderbar“, sagt die Historikerin, die mittlerweile auch bis auf das Dach vorgedrungen ist. Die junge Frau mit dem roten Minirock läuft mit ihrer Freundin die Rampe der begehbaren Glaskonstruktion hinauf, langsam, hoch über die Stadt hinaus, mitten in die Lichtkathedrale hinein. In der Mitte der Kuppel funkeln 360 Spiegel, die Licht in das weit unten gelegene Plenum werfen. „Das ist wie ein Kettenkarussell. Das Licht, das Metall, die Menschen, die sich mitten in der Kuppel auf der Rampe im Kreis bewegen“, findet sie, und die beiden jungen Frauen überlegen, wie schwer es gewesen sein muß, die schon in Teilen fertig montierte Kuppel aus Glas und Stahl mit den Krähnen auf dem Dach zu montieren. „Von hier aus sieht man mehr als vom Fernsehturm. Der ist zu hoch. Die Strukturen der Stadt sind zu undeutlich“, sagt die Freundin, die aus Ostberlin kommt und von dort schon zigfach den Blick über die Dächer Berlins schweifen ließ. „Es ist schon doll, die eine Seite der Stadt habe ich erklären können, und die andere Seite der Stadt mußte meine Freundin mir erklären“, sagt die Ostdeutsche und wird plötzlich ganz nachdenklich. „Seltsam, daß das zehn Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch so ist.“