Der Völkerbund zu Asche, zu Rauch

1989 wurde es versäumt, die UNO zu einem durchsetzungsfähigen Imstrument für eine neue, friedliche Weltordnung aufzuwerten. Deshalb erleben wir heute im Kosovo-Krieg die Bankrotterklärung der Weltorganisation  ■   Von Sergio Pitol

Belgrad lernte ich im März 1968 kennen und blieb dort bis zum Jahresende. Ich arbeitete in der Kulturabteilung der mexikanischen Botschaft. Dieser Aufenthalt eignete sich wunderbar, um die politische Landkarte Europas verstehen zu lernen. Der Balkan war immer die exzentrischste Zone Europas, voller Überraschungen, Finten und Ausbrüche. Seine Vitalität ist ebenso ausgeprägt wie seine Probleme.

Abgesehen von den öffentlichen Parks und einigen Alleen ist Belgrad nicht sehr attraktiv – die Stadt wurde viele Male zerstört. Es gab mehrere Fußgängerzonen, durch die den ganzen Tag lang Menschenmengen zogen. Es gab Cafés mit Gärten, in denen alkoholische Getränke ausgeschenkt wurden. Die Gäste waren mehrheitlich Jugendliche. Man hörte ein Stimmengewirr aus ernsten Stimmen und lautem Gelächter. In den besten Lokalen musizierten ab und zu kleine Orchester. Die Spieler, pompös in Smokings gekleidet, spielten Wiener Walzer, Polkas und Csárdás sowie einige der bekanntesten Opernstücke. Niemand schien ihnen zuzuhören, aber wenn ein Stück zu Ende war, stellten die Anwesenden ihr Gespräch ein und applaudierten herzlich, so als hätten sie der Aufführung aufmerksam gefolgt. Man konnte unmöglich wissen, was alle diese Leute auf der Straße, in den Cafés und Kneipen taten. Ob sie arbeiteten oder studierten, wovon sie lebten – ich werde es nie erfahren.

Vier oder fünf Monate nach meiner Ankunft erreichten die Nachrichten vom Aufruhr in Paris, Berlin und anderen europäischen Orten auch Belgrad, und, wenn auch in geringerem Ausmaß, einige Hauptstädte der jugoslawischen Republiken. Die jungen Leute begannen auf einmal, ihren Meistern Widerworte zu geben, sie auf ihre Fehler aufmerksam zu machen, einen unideologischeren Unterricht und das Recht der Phantasie über eine graue und manichäische Realität zu fordern. Die Jugendrevolte in Europa, die aus dem „Pariser Mai“ ein Paradigma gemacht hatte, schien bei der jugoslawischen Jugend auf leidenschaftlichen Widerhall zu stoßen. Einige Fakultäten wurden von Studenten besetzt, es kam zu riesigen Demonstrationen in der Stadt.

Die Presse eröffnete daraufhin eine Hetzkampage gegen die Studentenführer. Sie wurden beschuldigt, Agenten im Solde ausländischer rechtsextremistischer Gruppen zu sein, die die Jugoslawische Föderation spalten wollten. Das Hauptziel dieser Agenten bestehe darin, den Haß zwischen den verschiedenen Nationen zu schüren, die die Föderation der Jugoslawischen Republiken bildeten. Das Parlament, die Gewerkschaften, die Berufsverbände, die Frauenvereinigung, die Vereinigung der Kriegsveteranen – kurz: alle Regierungsorgane – forderten geschlossen eine exemplarische Bestrafung der jugendlichen Provokateure, die sich angeblich der Destabilisierung der Föderation verschrieben hatten.

So wurden einige Anführer an den Universitäten festgenommen, Demonstrationen wurden brutal aufgelöst, doch die Studenten gaben nicht nach. Im Gegenteil: In den anderen Republiken entstanden neue Bewegungen, und Intellektuelle in Belgrad, Zagreb und Ljubljana bekundeten vereinzelt Sympathie mit den Rebellen. Auf einer besonders angespannten Demonstration erschien ein alter Offizier aus Montenegro, in seiner Jugendzeit ein Kampfgefährte von Tito, der in den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft und in einer Schlacht einen Arm verloren hatte. Er stand in dem Ruf, in den obersten Machtsphären gegen die illegitime Bereicherung der neuen Klasse um Tito protestiert zu haben. Als dieser Riese auf der Demonstration auftauchte, gab es heftigen Applaus, berichten Augenzeugen. Es wurden Verhandlungen aufgenommen, fortgeführt, und bald darauf mußten die offiziellen Staatsorgane den guten Willen der beiden Konfliktparteien preisen. In einer ihrer ersten Erklärungen betonten die Rebellen ihr Festhalten an der Föderation und ihre Ablehnung gegenüber jeglichen Abspaltungstendenzen. Schließlich feierte der „Marschall“ selbst offiziell die Lektion, die die Studenten der Nation erteilt hatten.

Vielleicht war das alles nur eine gute Inszenierung, damit das „Oberkommando“ letztendlich den Sieg davontragen und den Anschein von Modernität und Toleranz erwecken konnte, aber vielleicht war es ja auch ein Triumph der Vitalität und der Überzeugung der Studenten, im Recht zu sein, und Flexibilität und Dialog hatten das Ihre dazu beigetragen.

Bei diesem Anlaß wurde ich zum ersten Mal der Bedeutung der nationalen Frage gewahr. Man konnte häufig einen Serben über die Kroaten oder die Makedonier schimpfen oder einen Kroaten die Serben, Makedonier oder Montenegriner verwünschen hören, doch das waren immer nur Worte, ohne sonderlichen Groll. In einer nicht allzu entfernten Vergangenheit war das anders gewesen. Während des Kriegs war Kroatien nazistisch gewesen, bis zu 200.000 Serben waren getötet worden. Es hatte nationale Säuberungen gegeben, doch als ich in Jugoslawien lebte, konnten sie sogar zusammen arbeiten. Von den Kosovo-Albanern hingegen wurde kaum gesprochen, sie waren fast unsichtbar.

Seit den Ausschreitungen der Jugendlichen in Belgrad war es Ausländern, seien es Diplomaten, Geschäftsleute oder Touristen, verboten, die autonome Provinz aufzusuchen. Es gingen Gerüchte aller Art um, man sprach von Aufruhr, gewaltsamer Repression, doch einige Monate später wurden die Grenzen wieder geöffnet und es sollten noch Jahre vergehen, bis der Traum von einer Unabhängigkeit dieser Region wieder akut werden und zu einer der schrecklichsten Tragödien unserer Zeit führen würde.

Alles, was ich über den Krieg weiß, stammt aus Erzählungen jener, die daran teilgenommen haben, und vor allem aus der Literatur und dem Film. Geistig und mehr noch physisch bereitet mir der Krieg einen unerträglichen Ekel, er bringt mich aus der Fassung. Wie Moro und Campanella darlegen, wurden die Utopien der Renaissance niedergeschrieben, um ein Gesellschaftsmodell zu erstellen, das perfekt genug sein würde, um die Konfliktquellen und den Krieg auszumerzen.

Die Ablehnung des Krieges steht in einer großartigen humanistischen Tradition. Für einen zivilisierten Menschen bedeutet die Kriegsoption, in die Höhlen zurückzukehren. Wenn ein Krieg beginnt, werden wir alle zu Verlierern. Alle, mit Ausnahme der Rüstungsfabrikanten, der Waffenhändler und -schmuggler. Das Waffengeschäft ist das zweiteinträglichste Geschäft der Welt – nach dem Drogengeschäft. Schriftsteller, die den Krieg miterlebt haben, beschreiben, wie schnell das intellektuelle und moralische Niveau der Gesellschaft abfällt, wie sich die Rücksichtslosigkeit überall ausbreitet und auf einmal selbst die unverdächtigsten Leute befällt. Der darauf folgende Schritt ist die Denunziation verdächtiger Personen und ein weiterer noch der Aufruf zur Lynchjustiz.

Miloevic, sein Regime und seine Anhänger kann man nicht verteidigen. Die serbische Regierung, ihr Heer und vor allem die schrecklichen paramilitärischen Brigaden, die vom Abschaum des kriminellen Milieus ausgebildet werden, müssen bestraft werden. Die Vorfälle in Bosnien haben es gezeigt, und die im Kosovo bekräftigen das Urteil: Es sind Kriminelle, deren Aufstieg die Welt tatenlos akzeptiert hat. Alles ist falsch gemacht worden.

1989, nach dem Fall der Mauer und dem Untergang des kommunistischen Systems, dachten viele, die Welt stünde an der Schwelle zur universellen Harmonie. Nachdem der Machtkampf zwischen den beiden Hegemonialblöcken beendet war, würden nun der Überfluß, soziale Gerechtigkeit und Kreativität ein freies Feld finden, um sich zu entwickeln und zu vervollkommnen. Es war der richtige Zeitpunkt, um die UNO zu stärken, sie zu verändern und zu perfektionieren für die höchsten Ziele in einer Welt des Friedens. Doch nichts davon trat ein.

In Sachen Völkerrecht sind wir um Jahrzehnte zurückgeworfen worden. Der enorme Einsatz, der zur Schaffung des Völkerbundes und später der Vereinten Nationen geführt hat, scheint sich im Nichts zu verlieren, in Asche, in Rauch. Die großen Mächte brauchten diese Institutionen bereits nicht mehr. Es lohnt sich für sie nicht, sich neben die Vertreter von peripheren, armen, wenig vertrauenswürdigen Ländern zu setzen. Die wichtigen Entscheidungen treffen diese Mächte allein, und die Ausführung wird ihrem bewaffneten Arm, der Nato, übertragen.

Generäle, das wußten wir schon immer, haben für Verhandlungen nicht viel übrig: Sie glauben an Stärke. Doch in Jugoslawien haben sich die Waffen bislang nicht als effizient erwiesen, sie haben im Gegenteil die Tragödie bis zum Irrsinn verstärkt.

Wenn nicht zur Vernunft zurückgefunden wird, wenn die Bombardierungen nicht in Friedensgespräche umgewandelt werden, wird die Welt in Händen von Kriminellen bleiben.

Aus dem Spanischen von Antje Bauer