„Wir brauchen eine UN-Polizei“

EU-Kommissarin Emma Bonino setzt sich leidenschaftlich für Menschenrechte und Flüchtlinge ein. Ja, man brauche die Hilfe der Militärs der gegenwärtigen Situation zum Aufbau der Lager, „aber da endet ihre Aufgabe“, meint sie im Gespräch mit  ■ Bettina Gaus

taz: Wo bestehen derzeit die größten Engpässe bei der Versorgung der Kosovo-Flüchtlinge?

Emma Bonino: Am dringendsten werden Unterkünfte benötigt, vor allem in Albanien. Außerdem gibt es Transportprobleme, insbesondere in den Norden Albaniens. Glücklicherweise ist es uns gelungen, die Nato zu bewegen, uns bei der Evakuierung von Flüchtlingen aus dieser Gegend zu helfen. Es ist erfahrungsgemäß so, daß große Lager in Grenznähe immer zu Problemen führen. Das haben wir schon im afrikanischen Goma gesehen, wo sich Flüchtlinge mit Kombattanten vermischt haben.

Sprechen Sie im Blick auf Nordalbanien jetzt von der UÇK?

Von beiden Seiten. Die UÇK versucht dort zu rekrutieren, aber es gibt auch Serben, die die Grenze überschreiten. Eine große Zahl von Flüchtlingen in der Nähe einer Grenze ist immer ein Risiko. Es ist verständlich, wenn jemand gerne dort bleiben will, wo er hofft, vermißte Familienangehörige am ehesten wiederzufinden. Aber wir haben viele überzeugen können, sich freiwillig etwas weiter in den Süden bringen zu lassen.

Gibt's dagegen auch Widerstand?

Ja, und wir werden niemanden zwingen.

Die Kosovo-Krise ist nicht der erste Konflikt, der zu einer Flüchtlingskatastrophe führt. Dennoch sieht es aus, als sei aus bisherigen Erfahrungen wenig gelernt worden. Waren die internationalen Hilfsorganisationen nicht wieder einmal völlig unvorbereitet?

Doch, das waren sie. Aber ich verstehe auch, warum. Keine Organisation dieser Welt kann sich auf 400.000 Flüchtlinge vorbereiten, die innerhalb von drei Wochen über die Grenzen kommen. Es wäre auch bei der EU-Kommission unmöglich gewesen, in den letzten Monaten genug Geld aufzutreiben, allein auf die bloße Erwartung eines Notfalls hin.

Stimmen Sie vor diesem Hintergrund der Einschätzung zu, daß die humanitären Organisationen jetzt die Hilfe des Militärs brauchen?

Für manche Aufgaben, ja. Vor allem für Transport brauchen wir auch militärisches Gerät. Nichtstaatliche Hilfsorganisationen verfügen im allgemeinen nicht über Hubschrauber und Geländefahrzeuge. In Europa sollte eigentlich die WEU für derartige Aufgaben zuständig sein. Leider existiert die WEU nur auf dem Papier.

Sie haben in der Vergangenheit mehrfach vor der Gefahr gewarnt, daß internationale Organisationen von unparteiischen Helfern zur Konfliktpartei zu werden drohen. Wird diese Gefahr durch eine Zusammenarbeit des UN-Flüchtlingskommisariats UNHCR mit der Nato nicht noch weiter vergrößert?

Ich hätte es bei weitem bevorzugt, wenn ein Appell an die WEU möglich gewesen wäre, aber das ging eben nicht. Es wäre mir auch lieber gewesen, wenn man sich an die albanische Armee hätte um Hilfe wenden könen, aber auch das ist aus verschiedenen Gründen schwierig. Es stellte sich also die Frage: Wer ist vor Ort? Es war für uns nicht möglich, den Flüchtlingen zu sagen, sie müßten zwei Wochen warten, bis wir jemanden gefunden haben. Aber das UNHCR war nicht gerade enthusiastisch angesichts der Notwendigkeit, die Nato um Hilfe bitten zu müssen.

Es war also die beste von einer Reihe schlechter Möglichkeiten?

So wie die Lage ist, ja. Italien hat beispielsweise Kräfte vom Katastrophenschutz geschickt. Das ist gut, aber nicht perfekt. Sie können beispielsweise sehr gut Zeltlager aufbauen, aber es dauerte seine Zeit, bis sie verstanden haben, daß große Flüchtlingslager in Grenznähe ein Problem sind. Sie haben Erfahrung damit, Erdbebenopfern beipielsweise in der Toskana oder in Umbrien zu helfen, aber eben keine Erfahrung mit solchen Fragen.

Halten Sie vor dem Hintergrund derartiger Erfahrungen Soldaten überhaupt für ausreichend ausgebildet für die Problemfelder humanitärer Hilfe?

Die Führung und die Koordination der Aktivitäten muß bei den humanitären Organisationen liegen. Es gibt noch ein Problem: Wir haben nicht so viel Erfahrung damit zusammenzuarbeiten. Es gibt da einen gewissen Zusammenprall der Kulturen.

Sie haben gesagt, daß Sie Hilfe beim Transport und beim Aufbau von Zeltlagern brauchen. Aber es gibt ja auch heiklere Themen: Sollen die Flüchtlinge militärisch geschützt werden?

Eine wichtige Frage. Und wenn ja, dann von wem? Von der nationalen Polizei? Vom nationalen Militär, wie jetzt in Makedonien? Ein Lager mit 30.000 Flüchtlingen ist eine Stadt, und man kann nicht so tun, als sei jeder Flüchtling ein Heiliger oder ein Märtyrer. Deshalb muß für Ordnung gesorgt werden. Wessen Aufgabe ist das?

In der Tat – wessen Aufgabe? Soll die Nato die Flüchtlinge schützen?

Nein. Das ist nicht die Aufgabe der Nato. Das ist meine feste Überzeugung. Wir brauchen eine UN-Polizei, und die fordern wir seit Jahren. Lassen Sie mich noch einmal an unsere Erfahrungen im zairischen Goma erinnern: Damals wurde gesagt, eine UN-Polizei sei zu teuer. So war die UNO an einem bestimmten Punkt gezwungen, mit Mobutu zu verhandeln und dessen Präsidentengarde in den Lagern einzusetzen. Ja, eine UN-Polizei ist teuer, ja, es gibt sie noch nicht, aber ich sehe trotzdem niemanden sonst, der für Ordnung in den Lagern sorgen könnte. Unter keinen Umständen ist das die Aufgabe der Nato.

Gegenwärtig erwägt die Nato ja, weitere Truppen nach Albanien zu entsenden, die Hilfe bei der Versorgung von Flüchtlingen leisten sollen. Der deutsche Verteidigungsminister Scharping hat gesagt, diese Soldaten müßten aus Gründen des Selbstschutzes bewaffnet sein ...

In Albanien? Nun, Soldaten sind Soldaten.

Halten Sie das für eine gute Idee?

Wir brauchen Militär zum Aufbau der Lager. Da endet es.

Sie wollen also keine kontinuierliche Unterstützung der humanitären Organisationen seitens der Nato?

Nein. Das wollen wir nicht. Die Soldaten bauen die Lager auf und übergeben sie. Das Militär kann uns in einer Notlage aushelfen, aber wir haben unterschiedliche Aufgaben.

Kommen wir zu einem anderen Aspekt der Zusammenarbeit zwischen Nato und dem UNHCR. Wie bewerten Sie die Tatsache, daß das UNHCR keine Satellitenbilder der USA über die Situation der Flüchtlinge im Kosovo bekommt?

Die Frage ist doch, ob nachrichtendienstliche Informationen über die Lage innerhalb des Kosovo alleiniger Besitz der Nato sind oder nicht besser geteilt werden sollten, so weit sie für die Vorbereitung der humanitären Helfer auf eine Situation nützlich sein können. Ich denke, das sollte etabliert werden. Wir und gewiß auch das UNHCR wollen keine militärischen Geheimnisse erfahren. Aber wir brauchen einen Teil der Informationen, vor allem hinsichtlich der Flüchtlingsströme. Gegenwärtig ist dieses Problem noch nicht gelöst, und das ist ziemlich beunruhigend.

Sind in dieser Hinsicht in den letzten vier Wochen Fehler gemacht worden?

Ja, und das liegt zum Teil daran, daß wir an Zusammenarbeit nicht gewöhnt sind.

Sie haben in diesem Gespräch auch Flüchtlingslager andernorts auf der Welt erwähnt. Fürchten Sie, daß durch die vollständige Konzentration der öffentlichen Aufmerksamkeit auf das Elend der Kosovo-Flüchtlinge in diesen Tagen humanitäre Hilfe bis zu einem gewissen Grad auch politisch instrumentalisiert wird?

Ich hoffe nicht. Wir müssen jeder Form der Politisierung humanitärer Hilfe widerstehen.

Läßt sich das denn vermeiden? Wir sehen die Fernsehbilder doch jeden Tag.

Wir haben keine Kontrolle über die Medien. Kürzlich war ich in Sierra Leone, und niemand hat sich dafür interessiert. Ich muß nach Sierra Leone fahren, ob es nun für CNN Bedeutung hat oder nicht. Aufgabe der humanitären Arbeit ist es, den Medien nicht zu folgen, sondern bei unseren Prioritäten zu bleiben. Niemand spricht mehr über den Hurrikan Mitch und die Verwüstungen, die er in Lateinamerika angerichtet hat. Wir müssen da sehr vorsichtig sein. Deshalb ist es auch so wichtig, daß wir zusätzliches Geld für die Kosovo-Flüchtlinge bekommen und nicht einfach vorhandene Mittel umverteilen. Am schwersten zu finanzieren sind die vergessenen Krisen.