Die Koffer bleiben ausgepackt

■ In die jüdischen Gemeinden ist Bewegung gekommen. Ein Gespräch unter Altersgenossen

taz: Sind eure Koffer in Deutschland ausgepackt?

Michael: Eigentlich hatte ich bereits meine Koffer gepackt und bin für einige Jahre nach Holland gegangen. Das war eine ganz bewußte Entscheidung. Ich wollte Deutschland verlassen, weil ich mich hier bedrängt mit meinem Judentum als eine alleinige Identität fühlte. Das war sehr aufschlußreich, weil ich nun mit der Deutschlandfeindlichkeit der Holländer konfrontiert wurde. Nach neun Jahren habe ich große Sehnsucht gespürt zurückzukommen, und deshalb habe ich meine Koffer wieder hier ausgepackt. Ich will hier sein. Ich will mich einmischen.

Sigalit: Ich empfinde die Situation in Deutschland gegenwärtig als sehr widersprüchlich. Zum einen, und das ist eine sehr positive Tendenz, ist ein Erstarken jüdischen Lebens in Deutschland zu beobachten. Nicht zuletzt wegen der jüdischen Zuwanderer aus den ehemaligen GUS-Staaten. Diese zahlenmäßige Vergrößerung hat auch den Aufbau von neuen jüdischen Institutionen ermöglicht. Aber ich würde diese Entwicklung nicht nur an Institutionen festmachen. Auch die Haltung der zweiten bzw. der dritten Generation ist eine ganz andere als die ihrer Eltern. Die, die die Shoah überlebten und hier blieben, lebten nach dem Motto „Möglichst nicht auffallen“. Das hat sich geändert. Andererseits finde ich gerade die Bubis- Walser-Debatte und auch gewisse Reaktionen und Haltungen der neuen Regierung sehr bedenklich. Da existiert eine Meinung: „Da wir links sind, sind wir gewissermaßen per se frei von Antisemitismus“, das heißt, man kann jetzt sagen, was man denkt und braucht darüber nicht großartig weiter nachdenken. Da ist eine große Unsensibilität vorhanden.

Hartmut: Symptomatisch für meine Koffer ist, daß ich erst nach zwei, drei Jahren Engagement aufgegeben habe, mich im christlich- jüdischen Dialog zu betätigen. Ich war zwei Jahre lang im Jugendbeirat bundesweit tätig und dann im Vorstand der Berliner Gesellschaft. Dann fand ich es wichtiger, mich auf das Eigene zu besinnen. Ich habe mich auf einen jüdischen Freundeskreis zurückgezogen. Ich bin froh, daß ich Freunde habe, die einen zweiten Blick oder auch einen Blick von außen auf Deutschland mitbringen. Da fällt es leichter, über viele Dinge, wie Geschichte oder Humor oder Mobilität – sei es graphisch oder geistig – zu reden. Man ist nicht so festgelegt, das Jüdische ist im Hinterkopf, und du mußt dich nicht ständig erklären oder rechtfertigen.

Gibt es ein neues jüdisches Selbstbewußtsein?

Michael: Es gibt neue Ansprüche, auch die facettenreichen Ausprägungen des Judentums umzusetzen. Es bewegt sich viel mehr innerhalb der jüdischen Gemeinden. Man hat langsam das Gefühl, angekommen zu sein. Man läßt mehr zu. Die Einheitsgemeinde muß nicht mehr krampfhaft zusammenhalten – es gibt eine größere Selbstverständlichkeit, eine größere Toleranz. Inzwischen ist es auch möglich, Kritik an Israel zu üben, was vor 20 Jahren noch undenkbar war, wenn man nicht als Verräter dastehen wollte.

Hartmut: Ich denke, daß gerade das Bewußtsein, sich wieder behaupten zu müssen und nicht mehr Liebling der deutschen Öffentlichkeit zu sein, zu neuem Selbstbewußtsein und Aktivitäten führt.

Die Generation der Überlebenden der Shoah wird es in einigen Jahren nicht mehr geben. Wie wird sich das auf das allgemeine Bewußtsein in bezug auf die nähere Vergangenheit und den Umgang damit auswirken? Kommen neue Herausforderungen auf die Nachgeborenen zu?

Michael: Ganz sicher. Wenn ich versuche, das europäischer zu sehen, dann denke ich schon, daß jetzt auch eine Zeit kommt, in der man die Shoah anders betrachtet. Vielleicht auch klarer, ehrlicher, weil man jetzt auch aufräumen kann mit Mythen. Von denen gibt es einige: die „neutrale Schweiz“, die Holländer, die immer als Widerstandskämpfer gesehen wurden, oder das Vichy-Regime in Frankreich.

Sigalit: Es wird zwar viel über den Holocaust gelehrt und gesprochen, und das muß natürlich auch in der Zukunft geschehen, aber das heißt noch lange nicht, daß damit wirklich umgegangen wird. Und das wird natürlich um so wichtiger, wenn keine Überlebenden des Holocaust mehr existieren.

Hartmut: Ich hoffe, daß dann die Lähmung durch die Shoah überwunden sein wird, weil man nicht mehr die eigenen Wunden auf so elementare Art und Weise verspürt. Es gibt eine eigene jüdische Geschichte in Europa, die 2.000 Jahre, wenn nicht älter ist und Anknüpfungspunkte bietet. Da gilt es genau hinzuschauen, was an verschüttetem Erbe geborgen werden kann. Shelly Kupferberg

Die Gesprächsteilnehmer sind alle um die Dreißig