Fußball und politische Verzweiflungszustände

■ Wo sind wir eigentlich? Nicolas Stemanns „Verschwörung“ auf Kampnagel taumelt zwischen Genua und Hamburg

Es beginnt mit einem Tumult. Die dritte Sitzreihe der Tribühne scheint zu fehlen. Dummerweise sind damit die Platzkarten der dritten und vierten Reihe doppelt belegt. „Das ist mein Platz“, schreit die mit einem Notitzblock ausgerüstete Frau und macht keine Anstalten, sich davon abbringen zu lasen. Heftige Diskussionen entzünden sich. Und das ausgerechnet auf den für die Presse vorgesehenen Plätzen. Na, wenn das kein Zufall ist. Nach minutenlangem Hin und Her schlichtet der Abenddienst. Jetzt hat jeder Zuschauer seinen Sitzplatz, sein teuer erworbenes Eigentum, und Ruhe kehrt ein.

Für Sekunden ist es dunkel, bis das helle Scheinwerferlicht den nackten Wänden der Halle k1 die Ursprünglichkeit zurückgibt. Kampnagelfabrik steht auf dem verrosteten Emailleschild, das unschuldig hinter großen Schweißmaschinen hängt, die wie exhumierte Leichen aufgebart werden. Wir sind in einer Fabrik. Das zumindest behauptet das Bühnenbild. Carlos, der Mann des „reinen Verstandes“ aus Goethes Clavigo ist da anderer Meinung. „Wir sind in einem Theater“, wiederholt er unermüdlich und bittet das Publikum, dies zu bestätigen. Klatschen und stampfen sollen die Zuschauer, um den ungläubigen Bühnengestalten Clavigo/Fiesco, Bredel/Beaumarchais, Marie und Sophie die Realität zu beweisen. Und ein ordentliches Publikum ist ja bekannternaßen willig, das alberne Animationsspielchen in Bierzeltmanier auszuüben. Doch der gewünschte Erfolg stellt sich nicht ein. „Das glaub ich nicht“, darin sind die Protagonisten aus Goethes Clavigo, Schillers Die Verschwörung des Fiesco zu Genua und Bredels Maschinenfabrik N & K ausnahmsweise einer Meinung.

Doch wo sind wir eigentlich wirklich? Mitten in der Verschwörung, einem komplizierten Geflecht, dessen Grundlagen drei Damen bilden, die sich den ewigen Themen von Macht, Intrigen und politischen Verzweiflungszuständen zuwenden. Irgendwo zwischen 1547 und 1999, zwischen Genua und Hamburg, zwischen Bürgertum und Proletariat. Da muß man sich was einfallen lassen, um die Komplexität und die Sprünge zwischen den Zeiten für ein Publikum nachvollziehbar zu gestalten. Dabei helfen Zeichen, die für eine bestimmte Epoche zuständig sind: Ein Harmonium steht einem Synthesizer gegenüber, alte Gewänder werden über Jeanshosen gestülpt. Und dann gibt es noch die Hinweise, um die Differenzen der Figuren zu offenbaren: Der Proletarier liest die Mopo, der Drahtzieher raucht die Zigarettenmarke NIL, der große Schauspieler rezitiert aus dem gelben Reclam-Heftchen, Musiker tragen Kampnagel-T-Shirts. Eindeutige Verweise. Zwei Details allerdings lassen sie zur Einheit werden: Sie tragen während der ganzen Aufführung Strümpfe, mal mit weißen Punkten, mal schwarz, selbstgestrickt oder mit Löchern. Dazu spricht man über Fußball und lauscht einer Live-Übertragung. Demütige Schauspieler, kleinbürgerliche Spießer, Intellektuelle oder arme Zeitgenossen ohne politische Haltung? Diese Frage bleibt offen. Aber wäre nicht das vielleicht die wichtigste Frage, die es zu klären gilt, wenn es im Stück heißt: „Die Sozialdemokraten haben uns verraten.“

Und wenn am Ende alle klatschen, wahrscheinlich, weil sie froh sind, nicht mit einer klaren Aussage über die aktuelle politische Situation konfrontiert worden zu sein, endet das Spiel mit einem 0:0. Wie das des VFL Bochum, dessen Übertragung kurz eingeblendet wurde. Der Kommentar des Trainers Klaus Toppmöller wurde ausgeblendet. Vielleicht sollten sich die Macher von Verschwörung dem genauer widmen. Kluge Gedanken machen noch lange keinen Sieg aus.

Claude Jansen