Kommentar
: Totenglocke für die UNO?

■ Das neue Nato-Konzept folgt vor allem dem Kurs der USA

Das Werk ist vollbracht, die Nato verfügt über ein neues strategisches Konzept. Allerdings hat der Krieg gegen Belgrad die Feier gründlich verhagelt. Trotz demonstrativer Geschlossenheit sind Meinungsverschiedenheiten über die neue Rolle nicht zu übersehen. Diffuse Formulierungen übertünchen schwelende Interessenkonflikte. Durch die aktuelle Krise zum Gipfelerfolg verdammt, blieben Kernaussagen des Dokuments vage.

Insgesamt haben sich die USA aber in zwei zentralen Punkten durchsetzen können, wenn auch mit Abstrichen. Erstens wurden die bisherigen geographischen und funktionalen Beschränkungen gesprengt. Künftig will die Allianz aktive Krisenmanagerin in einem „euro-atlantischen“ Raum sein, obgleich eine globale Ordnungsfunktion für das Bündnis, mit der die USA seit längerem liebäugeln, bei den Europäern auf wenig Resonanz stieß. Clintons beiläufiger Hinweis auf Interessen der Nato an „Stabilität“ in einem Krisenbogen, der von Nordafrika über den Mittleren Osten bis zum Transkaukasus reicht, läßt kaum Zweifel, daß zumindest die USA einen weiten Aktionsradius wollen.

Die neue Nato will „Friedensstifterin“ sein – aber was, wenn die Staaten in den betreffenden Regionen sie als „Weltpolizist“ sehen? Solche Wahrnehmungen dürften eher zu größerer Konfrontation als zur Kooperation mit dem Westen führen und jene Risiken steigern, welche die Nato gerade einzuhegen sucht. Fragen wirft auch die Erklärung der Allianz auf, daß sie künftig in „Ausnahmefällen“ auch ohne UN-Mandat handeln will. Damit beschädigt sie einen der zentralen Rechtsgrundsätze der UNO-Charta. Schlimmer noch, sie lädt zur Nachahmung ein. Und sie folgt einem schon seit längerem von den USA vertretenen Kurs: mit der UNO, wenn möglich, ohne sie, wenn nötig.

Rot-Grün wollte urspünglich einer Entmachtung der UNO entschieden begegnen. Erkennbarer Widerspruch blieb jedoch aus. Ratlosigkeit scheint nun politische Vernunft zu ersetzen. Wer das Rechtsdach der UNO schwächt, trägt Mitverantwortung für die Konsequenzen. Die Nato – und mit ihr die Bundesregierung – wird anderen Staaten künftig wohl kaum verwehren können, was sie für sich selbst beansprucht. Führt die Geburt der neuen Nato zur Beerdigung der UNO, wird nicht mehr, sondern weniger Sicherheit die Folge sein? Hans J. Giessmann

Mitarbeiter am Hamburger Friedensforschungsinstitut