„Steinigung mit Argumenten“

■ Andreas Nachama, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Berlin, fordert politische Signale gegen den erstarkenden Rechtsextremismus und keine „Sonntagsreden“

Die Frage nach einem „Wehret den Anfängen“ stelle sich längst nicht mehr. Andreas Nachama, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, warnte am Montag abend im Berliner Willy-Brandt-Haus auf einer Diskussion zum Thema „Rassismus und rechte Gewalt“ deutlich vor der zunehmenden Ignoranz gegenüber dem erstarkenden Rechtsextremismus. Für ihn stelle sich die Bedrohung durch Rechtsradikale als „massiv kritische Situation“ dar. „Wir befinden uns in Deutschland auf einem zugefrorenen braunen See“, hatte Andreas Nachama vor gut einem Jahr festgestellt, jetzt bilanzierte er: „Das Eis ist an vielen Stellen bereits gebrochen.“

Die Situation entziehe sich vor allem auch der Statistik, meinte Nachama mit Blick auf den Verfassungsschutzbericht, der in diesem Jahr zum Beispiel in Brandenburg ein Sinken rechtsradikaler Straftaten vermeldet hatte. Besonders schlimm sei, daß das Problem von der Politik nicht als solches anerkannt und bekämpft, sondern im Gegenteil wieder schöngeredet werde. Auch rechte Trends in Ostdeutschland mit einem völkisch-autoritären Charakter der DDR erklären zu wollen, wies Nachama als verkürzt gedacht zurück. Die SED habe zum Teil sehr wohl versucht, Werte wie Solidarität und Völkerfreundschaft zu vermitteln. „Nicht alles war falsch.“

Mit dem Zusammenbruch des politischen Systems 1989 sei bei vielen offenbar auch das Wertesystem zusammengebrochen. „Bei solchen Zeitgenossen ist das elementare Menschsein nicht vorhanden, der Respekt vor dem anderen“, erklärt sich Nachama die mentale Lage vieler rechtsextremer Schläger. Auch den oft zitierten Verweis auf die schlechte soziale Situation der Täter lehnt der ehemalige Leiter der Gedenkstätte „Topographie des Terrors“ als Legende ab. Gefaßte Rechtsextremisten stünden nämlich erwiesenermaßen in einem Großteil der Fälle in Lohn und Brot. „Rechtsextremismus ist kein Problem von fehlenden blühenden Landschaften.“ Mit dieser Behauptung trete man höchstens „den Arbeitslosen zu nahe“. Dieser Gesellschaft, so Nachama, fehle ein Wertestandard.

Handlungsmöglichkeiten sieht der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde im Setzen politischer Signale. Die gesamte Gesellschaft müsse signalisieren: „Wer rechtsradikale Straftaten begeht, der steht außerhalb unseres Gemeinwesens.“ Ohne versteckte Sympathien seien solche Taten auf Dauer nicht möglich. Es müsse deshalb „ein Aufschrei durch die Gesellschaft gehen“. Man könne natürlich auch „biblische Ratschläge in Betracht ziehen“, etwa durch „Steinigung mit Argumenten“. „Sonntagsreden von Politikern“ hält Nachama allerdings für wirkungslos. Vielmehr müßte die Gesellschaft durch Demonstrationen an den Tatorten ihre Ablehnung signalisieren. „Ob Lichterketten 1999 das Richtige sind“, könne er nicht beurteilen, aber die Bevölkerung müsse „eine Fahne hochziehen“.

Der SPD-Spitzenkandidat für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus, Walter Momper, sagte im Anschluß, gelebte Toleranz müsse zur politischen Kultur werden. „In Brandenburg hängen die Glatzen am Dorfbrunnen herum. Ich sitze ja immer im Auto, aber wenn man da langgehen müßte, das wär ja furchtbar, denkt man sich.“ Statistisch gesehen liegt Brandenburg auf Platz vier in der Rangliste rechtsextremer Straftaten – hinter Berlin. Andreas Spannbauer