„Gesunde“ sind gehandicapt

„Die Schublade Behinderte stört viele“, erklärt ein Sitzballer die Nachwuchsprobleme in seiner Sportart, die vor allem Beinamputierte, aber auch Nichtbehinderte betreiben  ■ Von Hartmut Metz

Draußen vor der Halle jagen Kinder einem Fußball hinterher. Einer vollführt ein paar Kunststücke auf seinen Inline-Skates. Drinnen sitzt ein graumelierter Herr auf dem Boden und schlägt, weil des Gegners Schmetterball von seinem Bein abspringt, verärgert auf den Störenfried, als wolle er ihn los haben – so wie sein anderes, bereits amputiertes Bein. „Am Montag, 8 Uhr, OP“, ist, wenn gesunde Gliedmaßen dem sportlichen Erfolg im Wege sind, ein gängiger Scherz bei den Sitzballern, berichtet Sieglinde Schneider, Vorsitzende des Behinderten- Sportvereines Bühl, und fügt hinzu: „Außenstehende finden unsere Witze oft makaber.“ Möglicherweise auch den Trikotsponsor des Pirmasenser Teams: Reno, eine Schuhladenkette.

„Als Behinderter mußt du immer einen Schritt vor den anderen sein“, weiß der Sitzballer Guido Tommer, „schaffst du das nicht, wird es nichts.“ Dem 45jährigen Schlagmann der BSG Sursee (Schweiz) dient der Zeitvertreib auf der zehn mal acht Meter großen Fläche, die in der Mitte durch die in einem Meter Höhe gespannte Leine durchschnitten wird, zum Frustabbau. „Du kannst all deinen Ärger in den Ball reinlegen“, erklärt der Basler und „träumt von zwei, drei Sitzball-Teams mit sogenannten Gesunden“ in seinen Vereinsreihen. Bei der Mischung aus Volley- und Faustball – das Leder darf zwischen den drei Kontakten jeweils einmal auf dem Hallenboden aufspringen – müßten sich „Gesunde“ zwangsläufig in die Probleme der Versehrten hineinversetzen, weil die „Gesunden im Sitzball mehr gehandicapt sind und eine größere Körperbeherrschung benötigen“. Gewöhnungsbedürftig scheint vor allem das Schmettern der Schlagmänner, die mit einer Gesäßhälfte auf dem Boden bleiben müssen, um die Leine nicht zu sehr zu überragen.

In das Problem versetzt sich Thomas Rutschmann nach 18 Jahren automatisch hinein. Er hat noch beide Beine – dafür fehlt ihm seit dem 13. Lebensjahr der rechte Arm. Wegen seiner Größe von 1,96 Metern führt er das Tiengener Quintett dennoch als erster von zwei Schlagmännern an. „Zwei Arme wären besser zum Blocken“, kommentiert er lakonisch seine dennoch herausragende Leistung. Der 31jährige geht fast noch als Nachwuchssportler im Sitzball durch. „Es ist schade, mit unserem Sport geht es abwärts, weil kaum Spieler nachkommen. Leute dafür gäbe es genug – doch sie wollen sich nicht in eine vermeintliche Ecke drängen lassen. Die Schublade Behinderte stört viele“, weiß Rutschmann.

Die „Berührungsängste“ kennt Sieglinde Schneider bestens, sie wollte auch nicht zu „denen“ gehören. Die 49jährige war in der Kur erstmals in Kontakt mit Sitzball gekommen. „Das machte mir zwar Spaß, ich hätte 1968 aber kaum angefangen, wenn ich nicht zu Hause abgeholt worden wäre“, erinnert sie sich. Seine Blüte in Deutschland und Österreich erlebte Sitzball nach dem Zweiten Weltkrieg, als die „Männer nach Hause kamen und weiter eine Ballsportart betreiben wollten“, berichtet Sieglinde Schneider und fährt fort: „Schade, daß der Nachwuchs so spärlich ist.“

Das findet auch Siegfried Schönleben. Dem 70jährigen würde „etwas fehlen, wenn ich keinen Sport – und dabei nicht nur Versehrtensport – mehr machen könnte“. Kegeln, Schwimmen – Schönleben ist „fast jeden Abend woanders“. Vor allem im Tischtennis habe er noch eine „gute Form“, plaudert er. Ihm zertrümmerte 1964 auf Montage ein Fahrstuhl ein Bein. Jetzt bedauert der Abwehrspieler der VSG Weinheim mit Blick auf Sitzball: „Prozentual gesehen gibt es immer weniger Beinamputationen.“ Erst nach ein paar Sekunden schiebt er gedankenverloren nach, „was ja auch irgendwie gut ist“.

Der BSV Bühl versucht deshalb, mit Schwimmen, Gymnastik sowie Sitzball auch Nichtbehinderte an sich zu binden. Die 62 Mitglieder reichen allerdings nicht aus, um ein eigenes Damenteam auf die Beine zu stellen. „Bei den Frauen sieht es ganz schlecht aus“, begründet Sieglinde Schneider, warum der BSV zusammen mit Karlsruhe eine Spielgemeinschaft bildet. Das Quintett mit Jutta Lawo, Barbara Fuchs, Maria Dotter und der Lichtenauerin Friederike Bäßler, die ihren Mann Andreas beim Sitzball kennenlernte, hat es in sich. Am Wochenende gewann der deutsche Rekordmeister in Saarbrücken den 17. Titel seit 1974. Die trickreiche Schlagfrau Schneider setzte zuvor beim Turnier in Weitenung auch den Männern gehörig zu. Brachiale Gewalt wird durch Raffinesse ersetzt, was zu Platz sechs unter den zehn Mannschaften genügt. Während bei Freundschaftsturnieren Unversehrte mitspielen können, herrschen bei nationalen Titelkämpfen strenge Richtlinien: Kein Quintett darf über 20 Schadenspunkte aufweisen. Die Höchstgrenze für Behinderte mit Lizenz liegt bei fünf Zählern, ein Spieler ohne Unterschenkel wird mit 3,5 veranschlagt, Oberschenkelamputierte mit 3,0.

Im spannenden Endspiel des Turniers in Weitenung unterlag das Bühler Team um Schlagmann Johann Knopf und den Behinderten-Biathlon-Olympiasieger von Nagano 1998, Walter Widmer, dem favorisierten DM-Dritten Pforzheim mit 21:23. Siegfried Schönleben nickt anerkennend: „So schnell wie die Jungen müßten wir noch sein!“ Sein Weinheimer Vereinskamerad sagt, was jeder andere Zweibeiner bei einem Turnier auch entgegnen würde: „Du, mit 70 sind wir nicht mehr so schnell wie die!“