Bomben auf Fabriken, Brücken und Straßen

■ Die Nato will mit ihren Luftangriffen mittelfristig die jugoslawische Kriegsmaschinerie lahmlegen. Doch kurzfristig trifft diese Taktik vor allem die Bevölkerung

Die jugoslawische Bundesregierung hat eine Kommission gegründet, die die Schäden der Nato-Luftangriffe feststellen soll. Bisher hat sie noch keine genauen Angaben gemacht. Eine Zwischenbilanz der Zerstörung ist wegen der dürftigen Informationen im serbischen Staatsfernsehen und wegen der beschränkten Bewegungsfreiheit unvollkommen. Was genau im Kosovo vor sich geht, kann man aus Belgrad nicht erfahren.

Laut der unabhängigen Zeitschrift Vreme haben unter den Luftangriffen der Nato über 500 Menschen das Leben verloren, mehr als 4.000 wurden verletzt.Schätzungsweise eine halbe Million Arbeitnehmer haben durch die Zerstörung von etwa 40 Fabriken ihre Existenzgrundlage verloren, mindestens zwei Millionen Menschen sind in Mitleidenschaft gezogen.

Unter anderem wurden die Tabakfabriken in Nis und Vranje zerstört, in mehreren Städten wurden ganze Komplexe der chemischen Industrie, die auch Medikamente herstellt, in Schutt und Asche gelegt. Auch die Fabrik für Baumwollverarbeitung in Pritina, das Heizwerk in Belgrad, zwei Fabriken in der Wojwodina, die Kunstdünger und Verpackungsfolien produzierten, wurden zerstört, ebenso in Nis eine Elektrofabrik und in Kragujevac die Autofabrik „Zastava“. In diesen beiden Werken arbeiteten insgesamt über 70.000 Menschen. Da fast jeder Industriezweig indirekt mit der Armee in Verbindung gebracht werden kann, hat die Nato eine breite Palette von Zielen.

Insgesamt zerstörte die Nato bis gestern 24 Brücken, darunter bis auf eine alle Donaubrücken, womit der Schienen- und Straßenverkehr zwischen den Kornkammern im Norden, der Wojwodina, und dem zentralen Serbien unterbrochen ist. Durch die Zerstörung der Brücken in Novi Sad ist in vielen Stadtteilen die Wasserversorgung unterbrochen worden. Militärische Bedeutung hat diese Aktion der Nato in der Wojwodina nicht, denn seit dem Angriff der Sowjetunion auf die Tschechoslowakei 1968 gibt es in dem an Ungarn grenzenden Flachland der Wojwodina keine nennenswerten militärischen Objekte mehr. Außer, und das wird in Belgrad nicht ausgeschlossen, wenn die Nato eine Invasion mit Panzern aus Ungarn in Erwägung zieht.

Auch andere Verkehrswege wurden in Mitleidenschaft gezogen. Die Nato bombardierte Straßen und Eisenbahnstrecken entlang der Nord-Süd-Linie Richtung Montenegro. In Bosnien-Herzegowina sprengtenSFOR-Truppen einen Schienenstrang. Dort führte die Eisenbahnlinie zwischen Belgrad und dem wichtigsten Adriahafen Bar in Montenegro einige Kilometer lang über bosnisches Gebiet. Die Folge ist eine dramatische Versorgungslage in der zweiten jugoslawischen Teilrepublik, die etwa 80.000 kosovo-albanische Flüchtlinge aufgenommen hat.

Mindestens zwölf Erdöl- und Benzinlager und beide Erdölraffinerien in der Wojwodina sind zerstört worden. Dadurch sind vor allem die Landwirtschaft und der zivile Verkehr schwer getroffen, die Armee hat dagegen nach dem schweizerischen Muster in unterirdischen atombombensicheren Depots genügend Treibstoffreserven für etwa drei Jahre Krieg.

Sieben militärische und zivile Flughäfen sind teils schwer beschädigt, teils zerstört worden.

In Belgrad wurden die längst ausgeräumten Gebäude des Bundes- und Landesinnenministeriums zerstört, was die Nato als großen Erfolg, als die Zerstörung von „Kommandozentralen für die ethnische Säuberung im Kosovo“ präsentierte. In Novi Sad landete die Nato einen Volltreffer im Palast der Gebietsbehörden, der unter Denkmalschutz steht, obwohl in dieser Stadt die Opposition an der Macht ist. In der Belgrader Vorstadt Zemun wurde der Club der Luftwaffe, den man für Hochzeitsfeiern mieten konnte, bombardiert. Die Nato erklärte anschließend, das Kommando der jugoslawischen Luftwaffe sei vernichtet worden. Das Luftwaffenkommando befindet sich in einem Bunker außerhalb der Stadt.

Auch den Medien hat die Nato den Krieg erklärt. In Belgrad wurde am vergangenen Freitag das Gebäude des serbischen Staatsfernsehens (RTS) zerstört, 16 Menschen starben unter den Trümmern. Drei Stunden später sendete RTS aus einem anderen Studio die üblichen Durchhalteparolen. Davor trafen drei Raketen ein Hochhaus, in dem sich die Studios von drei Fernsehsendern und zwei Radiosendern sowie die Parteizentralen der Miloevic-Sozialisten und der Jugoslawischen Linken befanden, deren Vorsitzende Miloevic' Frau Mira Markovic ist.

Über die Vernichtung von rein militärischen Objekten ist wenig bekannt. Dutzende leerstehende Kasernen hat die Nato sicher zerstört. Doch die Kriegsmaschinerie ist größtenteils mobil, teilweise in unterirdischen Bunkern in den Bergen untergebracht und deshalb schwer zu treffen. Deshalb konzentrieren sich die Luftangriffe der Nato auf die wirtschaftlichen Potentiale Jugoslawiens, um indirekt und mittelfristig die jugoslawische Kriegsmaschinerie lahmzulegen. Diese Taktik trifft jedoch kurzfristig vor allem die Zivilbevölkerung. Andrej Ivanji, Belgrad