„Die USA sind fair mit uns umgegangen“

■ Gernot Erler, stellvertretender SPD-Fraktionsvorsitzender, über das neue Verständnis der Nato

taz: Haben sich die USA auf dem Nato-Gipfel durchgesetzt?

Erler: Nein, ich kann in dem Gipfeldokument durchaus auch eine deutsche Handschrift erkennen. Es finden sich Positionen wieder, die von uns im Vorfeld vertreten wurden.

Sie reden von der Debatte um den first use von Atomwaffen?

Nicht nur. Es ist zudem gelungen, die Begriffe Sicherheit und Stabilität als vierte Kernfunktionen der Nato festzuschreiben, und zwar in der geographischen Eingrenzung auf die euroatlantische Region. Dieses zu erreichen war ein Ziel der deutschen Diplomatie.

Präsident Clinton will auf regionale und ethnische Konflikte jenseits des Bündnisgebietes reagieren. Wie groß ist das zukünftige Nato-Operationsgebiet?

Es war klar , daß kein Text formuliert würde, der den Kosovo-Einsatz ausschließt. Die Frage ist doch, ob damit auch für die Zukunft eine Option eröffnet wurde. Das kann man aus dem Text allein nicht ersehen. Allerdings ist auffällig, daß die Vereinten Nationen gleich an mehreren Stellen erwähnt werden. So heißt es in Kapitel 10, daß die Allianz sich ihrem Washingtoner Gründungsvertrag und der Charta der Vereinten Nationen verpflichtet fühlt. Kapitel 15 besagt, daß der UN-Sicherheitsrat die Hauptverantwortung für Frieden und Sicherheit in der Welt hat. Auch vom Krisenmanagement heißt es, daß es in Übereinstimmung mit internationalem Recht geschehen müsse. Das sind starke Einschränkungen für eine beliebige Beschäftigung mit weltweiten Krisen.

Die Erfahrung mit dem Kosovo-Einsatz macht mißtrauisch, ob sich die Nato immer an ihre Vorgaben hält. Wird mit dem Gipfeldokument nicht zur Regel, was in der Kosovo-Debatte noch als absolute Ausnahme charakterisiert wurde?

Zu internationalen Einsätzen hätte sich in Washington eine sehr flexible Formulierung durchsetzen können, in der die Rolle der Vereinten Nationen eher lax umrissen war. Das Gegenteil hat sich durchgesetzt. Das lag nicht allein daran, daß sich Frankreich und Deutschland eine noch striktere Aussage gewünscht haben. Vielmehr hat sich hier die ernüchternde Erfahrung mit dem Kosovo-Konflikt niedergeschlagen, die nicht dazu ermutigt, daraus ein Modell zu zimmern. Deshalb konnten sich diejenigen, die eine weitgehende Flexibilität sowie eine geringe Bindung an internationales Recht und an geographische Eingrenzungen wollten, nicht durchsetzen.

Auch die deutsche Seite argumentiert, daß eine UN-Mandatierung des Einsatzes an der russischen Vetoposition gescheitert sei. Kann sich dieses Szenario wiederholen?

Das Nein Rußlands hängt mit dessen frustrierenden Kooperationserfahrungen zusammen. Im Irak-Konflikt und im Vorfeld der Kosovo-Krise ist Rußland von den USA bewußt rausgehalten worden. Im Gipfeldokument wird in geradezu auffälliger Weise die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit Rußland betont. Das ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß sich solche Fehlentwicklungen nicht wiederholen. Rußland muß bei allen Krisen frühzeitig eingebunden und als gleichberechtigter Partner behandelt werden. Aber auch dann ist nicht auszuschließen, daß von dem Vetorecht im Sicherheitsrat sachfremd Gebrauch gemacht wird. Deshalb brauchen wir dringend eine Reform der UN.

Bundesaußenminister Joschka Fischer plädiert dafür, das Vetorecht an inhaltliche Kriterien zu knüpfen.

Das ist eine Einzelposition unter einer ganzen Reihe von Reformvorschlägen, auch der SPD-Fraktion, die international bislang keine Beachtung gefunden haben. Wenn sich die Kriegswolken über dem Kosovo verzogen haben, wird die Handlungsfähigkeit der UN auf der Tagesordnung stehen. Die Bereitschaft für eine solche Reform ist gewachsen. Auch bei denen, die bislang eine Politik der bewußten Schwächung der UN betrieben haben. Eine entsprechende Wendung der amerikanischen Außenpolitik wäre ein geradezu konstruktives Ergebnis dieses ansonsten nicht konstruktiven Konfliktes.

Ist die Bundeswehr auf das neue Feld „Krisenmanagement und -eindämmung“ vorbereitet?

Man kann dieses Feld zunächst einmal weniger militärisch als vielmehr als Ausdruck einer gewachsenen politischen Fähigkeit der Nato begreifen, mit Krisen fertigzuwerden. Das führt in dem Strategiepapier unter anderem zu einer Reduzierung der Rolle der Nuklearwaffen. Diese Reduzierung war vorher nicht absehbar und ist die erfreulichste Entwicklung in der Nato-Strategie. Es war vorher vereinbart worden, daß der first use auf dem Gipfel nicht thematisiert wird, aber man hat den Prüfauftrag festgeschrieben. Schon ab Herbst soll darüber geredet werden, inwieweit ein Festhalten an first use die Non-proliferation beeinträchtigt. Die USA sind fair mit der deutschen Position umgegangen.

Interview: Dieter Rulff