Meisterin des Hilfeschreis

Was tun, wenn jemand aus dem Bekanntenkreis erkrankt, lebensgefährlich erkrankt? Flüchten oder nach Kräften helfen? Und was tun, wenn sich plötzlich herausstellt, daß sich alles ganz anders verhält? Wenn klar wird, daß im engen Geflecht von Hilfsbedürftigkeit und Hilfsbereitschaft auch Verstellung und Mißbrauch gedeihen können. Die Chronik einer schwer erkennbaren Krankheit  ■ Von Ulla Tipke

Vor ungefähr fünf Jahren verließ eine meiner Schülerinnen mitten im Schuljahr die Klasse. Sie habe Krebs, teilte ihre Klassenlehrerin mit. Einige Wochen später traf ich die Kranke zufällig in der Einkaufspassage. Sie trug eine Wollmütze, doch sie konnte den kahlen Schädel darunter nicht ganz verbergen. „Leukämie“, erklärte sie, „ich habe gerade wieder eine Chemotherapie hinter mir.“

Damals war Martina Müllerachtzehn und hatte gerade eine Ausbildung als Krankenschwester angefangen. Sie sagte: „Am liebsten würde ich auf einer Krebsstation arbeiten, ich weiß doch, wie sich das anfühlt.“ Wir standen noch eine Weile beisammen. Sie wirkte bedrückt, erzählte von ihren Eltern, zu denen sie keinen Kontakt mehr habe. Ich bat sie um ihre Adresse und beschloß zu Hause, mich um sie zu kümmern. Sie hätte meine Tochter sein können.

Aus dem Wunsch zu helfen wird sehr schnell ein intensives Betreuungsprogramm, soweit mir mein Beruf und meine eigenen beiden Kinder dazu Zeit lassen. Wir telefonieren häufig miteinander und treffen uns ein- bis zweimal die Woche. Sie erzählt mir ihre Lebensgeschichte, die eines Einzelkindes, das gleich nach der Geburt tagsüber von einer grobschlächtigen Frau mit drei eigenen Kindern betreut wurde, da ihre Mutter weiter arbeiten wollte. Sie erzählt von Unverständnis und Entfremdung und von der Ungeheuerlichkeit, daß ihre Eltern ihr die Krankheit nicht glaubten, ihr eigentlich nie etwas geglaubt hätten.

Zwei Monate darauf steht eine Operation an. Da es sich um lymphatische Leukämie handelt, sollen ihr zwei Lymphknoten am Hals entfernt werden. „Die Ärzte“, sagt sie, „haben allerdings Bedenken zu operieren, weil ich die Narkose eventuell nicht überstehen könnte.“ Sie bittet mich, nach dem Aufwachen dazusein. Falls das Zimmer leer wäre, würde sie es nicht überleben...

Mit Herzklopfen betrete ich den Raum. Gott sei Dank, Martina lebt, auch wenn es ihr sehr schlecht geht. Ich besorge mir Bücher über das Sterben und Erlebnisberichte von Angehörigen Leukämiekranker. Als Einübung für später.

Einmal ruft sie mich ganz außer sich an. Eine Frau, die sie von der Krebsstation in der Universitätsklinik kenne, habe sie zu sich gebeten, weil sie meinte, es gehe mit ihr zu Ende. Nach dem Eintreffen habe diese vor aller Augen ihre blutige Lunge erbrochen und sei qualvoll daran gestorben.

Ein anderes Mal ruft sie mitten in der Nacht an und bittet mich, Batterien zu besorgen für ein Gerät, das durch elektrische Schwingungen Schmerzen lindere. Ich fahre zu einer Tankstelle und dann zu ihr, lasse sie am Ende mit schlechtem Gewissen allein.

Wochen und Monate vergehen. Ihr Zustand wechselt ständig. Mal geht es zwei, drei Wochen ganz gut, dann kommt eine neue Krise. Sie berichtet, die Ärzte hätten wenig Hoffnung. Was sie anbieten könnten, seien die neuesten Medikamente aus den USA, für die sie sich als Versuchsperson zur Verfügung stellen dürfe.

Etwa alle halbe Jahre gehen ihr durch Chemotherapien die Haare büschelweise aus. Martina versucht aus ihren zeitweiligen Glatzköpfen einen Kult zu machen, hängt sich demonstrativ Fotos von berühmten Kahlköpfen an die Wand. In der U-Bahn wird sie einmal als Skin beschimpft. Seither haßt sie öffentliche Verkehrsmittel.

Die Ausbildung muß sie abbrechen, sie fehlt zu häufig. Aus ihrem Schwesternzimmer zieht sie in eine Wohngemeinschaft. Dort stiehlt einer ihr Sparbuch. Als sie es bemerkt und den Schuldigen herausfindet, meint dieser nur, sie hätte ja sowieso nicht mehr viel von ihrem Geld haben können.

Anderthalb Jahre nach Beginn unserer Freundschaft, während meiner Ferien außerhalb der Stadt, teilt Martina mir mit, ihr Zustand habe sich so verschlimmert, daß das Rückenmark befallen sei. Als ich zurück bin, sitzt sie im Rollstuhl.

Es folgt eine Zeit voll hektischer Organisation. Martina braucht die amtliche Anerkennung als Schwerbehinderte und eine behindertengerechte Wohnung. Sie findet eine Halbtagsstelle, beantragt ein behindertengerechtes Auto und macht den Führerschein dafür nach.

Wie schnell und tapfer sie diesen erneuten Schicksalsschlag verwindet! Eisern übt sie die Fortbewegung im Rollstuhl, schieben lassen möchte sie sich nicht. Sie nimmt erfolgreich an Marathonläufen teil und tritt sogar einem Ballsportverein für Rollstuhlfahrer bei, trainiert sich hinauf bis in die Nationalmannschaft. Martina scheint zufrieden zu sein.

Im darauffolgenden Frühling beschließt sie, mit der Bahn nach Wien zu fahren – in die Stadt, von der sie seit einer Klassenfahrt schwärmt. Sie sieht diese Tour als letzten Ausflug in die Welt an. Glücklich kommt sie zurück, obwohl sie sagt, daß sie auch dort im Krankenhaus gewesen sei, weil sie frisches Blut benötigt habe.

Einmal meldet sie sich ganz euphorisch. Nach einer Routineuntersuchung habe man ihr mitgeteilt, ihr Blut sei wieder ganz in Ordnung, der Blutkrebs besiegt. Ich reagiere skeptisch, kann das Wunder nicht so recht glauben. Zwei Tage später die Bestätigung meiner Befürchtungen. Martina sagt, die Werte seien versehentlich vertauscht worden, statt der Ergebnisse von Martina Müller seien es die von Martin Müllergewesen.

Dann spricht sie von Metastasen in der Brust. Es sei schwierig, ein Krankenhaus zu finden, das eine Operation noch durchführen wolle, „das Risiko ist zu groß, daß ich den Blutverlust nicht verkraften kann“.

Dann findet sie doch einen mutigen Chirurgen. Bangen und Hoffen. Sie schafft es wieder. Langsame Genesung und Schilderungen von erschreckenden Narben. Als nächstes berichtet sie vermehrt von Ohnmachtsanfällen und Atemnot; die Angst wächst, sie könnte ersticken wie einst ihre Freundin auf der Krebsstation.

Ich bin alarmiert, wenn sie zu verabredeten Zeiten nicht ans Telefon geht oder die Tür nicht öffnet. Einmal lasse ich vom Hausmeister ihre Wohnung aufschließen, eine andere Freundin ruft die Feuerwehr. Fehlalarm, sie ist nur nicht da und empfindet unsere besorgte Aktion als Überreaktion.

In einer längeren Phase von Stabilität äußert sie den Wunsch, einmal im Leben mit dem Fallschirm vom Himmel springen zu können. Wir, ihre Freunde, legen zusammen und überraschen sie. Am Himmelfahrtstag ist es soweit. Im Tandemverband fliegt sie engelsgleich uns auf der Erde entgegen.

Kurz danach ist wieder eine Operation fällig, noch einmal wird die Brust bearbeitet. Martina bleibt aber nur kurz im Krankenhaus, läßt sich auf eigene Verantwortung entlassen, da sie meint, „in der Klinik wird meine Lebensenergie nur erlahmen“.

Einmal teilt sie mir mit, sie habe genügend Medikamente gesammelt, um sich bei Bedarf selbst ein sanftes Ende bereiten zu können. Ob ich grundsätzlich bereit sei, ihr in der schwierigen Stunde beizustehen? Zögernd sage ich ja.

Eine Zeitlang spricht sie von ihrer letzten Hoffnung, einer Rückenmarkspende. Ein Spender scheint sogar gefunden. Doch nach genauerer Blutanalyse die große Enttäuschung – die Werte stimmten doch nicht überein.

Im Herbst darauf lädt sie alle Freunde zu einem Abschiedsfest. Die Stimmung ist gedrückt, ihr selbst geht es an diesem Tag besonders schlecht. Danach arbeitet sie an zwei Projekten: an einem Erlebnisbericht über ihre Krankheit, den sie gern als Buch veröffentlicht sehen würde, und an einem Abschiedsfilm für ihre Freunde, bestehend aus einer Ansprache und einem Lied.

Sie überlegt, wem sie was vererben möchte. Doch das Blatt wendet sich noch einmal. Eine ihrer Kolleginnen fängt an sich intensiv um sie zu kümmern. Sie nimmt sich viel Zeit für die Kranke und lindert dadurch Einsamkeit und Todesangst. Martinas Zustand stabilisiert sich.

Nach drei Jahren Betreuung fange ich an mich zurückzuziehen. Ich bemerke eine tiefe Erschöpfung und gestehe mir eine geheime Kränkung ein, denn weder zu meinem Geburtstag noch zu Weihnachten hatte sie mich mit einem Zeichen der Aufmerksamkeit oder Dankbarkeit bedacht.

Wie froh bin ich, daß jemand anders sich verantwortlich fühlt! Ich brauche nicht mehr täglich an sie zu denken. Auch die nächtlichen Anrufe fallen weg, in denen sie mich bat, noch zu kommen, und ich ihr schuldbewußt im Anbetracht meines nächsten Arbeitstages immer nur ein telefonisches Trostgespräch oder einen Krankenwagen angeboten hatte.

Gelegentlich erfahre ich, daß es zwar Rückfälle gebe, ihr Allgemeinzustand jedoch wundersamerweise besser sei als in den Jahren zuvor.

Doch dann das Ende. Vor einigen Wochen ruft Martina mich mit schwacher Stimme an und bittet um einen Abschiedsbesuch, die Krankheit habe sie nun endgültig besiegt. Ich fahre sofort los. Ihr blutleeres Gesicht erschreckt mich. Sie klagt über Schmerzen. Ihre weinende Freundin am Bett. Wir sind todtraurig. Noch einmal die alte Nähe und Vertrautheit, das Gespräch über Loslassen und den schmerzfreien Frieden in einer anderen Welt.

Sie möchte ihren Teddy mit in den Sarg haben. Ob wir uns um die Veröffentlichung ihres Buches kümmern könnten? Für ihre Beerdigung habe sie eine Kassette bespielt.

Nach einer alptraumhaften Nacht fahre ich am nächsten Nachmittag noch einmal zu ihr. Doch keiner macht die Tür auf, die Wohnung bleibt totenstill. Als ich angstvoll das Haus verlasse, treffe ich zufällig auf Martinas Freundin. Noch im Fahrstuhl nach oben erzählt sie mir das Unfaßbare – die Krankheit war ein Bluff.

Einer der Freunde Martinas hat denselben Hausarzt wie die Kranke. An diesem Tag hat er bei ihm einen Termin und spricht über das nahe Ende der Sterbenden. Der Hausarzt ist überrascht. Leukämie? Davon wisse er ja gar nichts.

In der Mittagspause besucht der Arzt spontan Martina. Die ist entsetzt, bäumt sich im Bad auf. Dort hat sie sich die Kanüle, durch die sie mit Nährlösungen versorgt worden war, herausgezogen.

Der Arzt weist sie ins Krankenhaus ein. Während sie Bluttransfusionen erhält, sitzen wir in ihrer Wohnung und versuchen zu verstehen. Bei der Beseitigung der Blutlache im Badezimmer entdecken wir einen Müllsack voller Blutbehälter. Sie hat sich das Blut selbst mit einer Spritze über die Kanüle abgenommen, um leukämiekrank zu wirken. So viel, daß ihr Leben wirklich bedroht war.

Wir machen uns schamlos an ihre Aktenordner, von denen wir uns Aufschluß erhoffen. Ordentlich hat sie alles abgeheftet. Vor sieben Jahren bereits ein Krankenhausaufenthalt wegen angeblicher Lähmung, Verdacht auf Simulation, Therapien lehnte sie ab. Der Klinikaufenthalt, bei dem angeblich Lymphknoten entfernt wurden, war in Wahrheit wegen einer simplen Mandeloperation nötig. Der Brusteingriff geschah aus kosmetischen Gründen. Beim dritten Mal wurde eine Narbenkorrektur vorgenommen.

Martina selbst hat sich als Rückenmarkspenderin angeboten, aber keine geeigneten Patienten zugewiesen bekommen. Statt Chemotherapien wurde ihr Eisen verabreicht. Laut Akte ist sie einige Male mit Blutmangel in die Ambulanz gekommen – Ursache unklar, Verdacht auf Manipulation. Das Arbeitsamt hatte fast vierzigtausend Mark für ein Auto bewilligt, dazu Tausende für diverse Rollstühle, Hilfsmittel und Pflegedienste.

Wir legen die Kassette mit ihrer Beerdigungsmusik ein. Reinhard Mey singt: „Über den Wolken muß die Freiheit wohl grenzenlos sein, alle Ängste, alle Sorgen...“ Wir spekulieren. Was hat sie gemacht, damit die Haare in Büscheln ausfielen? Medikamente oder Chemikalien benutzt?

Wie hat sie die Anerkennung als Schwerbehinderte erhalten – durch Medikamente oder durch eine hysterische Lähmung? Ist sie gelaufen, wenn keiner von uns zugegen war? Wollte sie wirklich sterben, weil ihre Freundin auch angefangen hatte sich wegen Überforderung zurückzuziehen? Waren die Geschichten von den vertauschten Blutwerten und der Suche nach einem Rückenmarkspender Versuche, aus den Lügen herauszukommen und ein normales Leben zu führen?

Nachträglich fallen uns Situationen ein, die uns hätten mißtrauisch machen müssen, die wir aber im blinden Vertrauen übersahen. Uns einte das Bedürfnis, Betroffenheit in Hilfe zu verwandeln, gut zu sein durch gute Taten und selbstlos die vermeintlich Schwächere durch Selbstaufopferung zu stärken.

Wir waren die idealen Mitspieler einer (fast) perfekten Inszenierung, die sie mit Material aus Fachbüchern komponierte. Die Neurologin im Krankenhaus spricht von einem Münchhausensyndrom. Darunter versteht man das wiederholte geschickte Simulieren einer akuten, dramatischen Krankheit, mit der ein Patient von Krankenhaus zu Krankenhaus wandert, um sich behandeln zu lassen und Aufmerksamkeit zu erregen.

Die Ursachen dieses psychiatrischen Problems seien in emotionalem oder physischem Mißbrauch begründet. Die Notwendigkeit, umsorgt zu werden, befinde sich im Zwiespalt mit der Unfähigkeit, einer Autoritätsperson zu vertrauen, die daher getäuscht und ständig provoziert und getestet werde.

Nach der Versorgung im Krankenhaus wird die Simulantin in die Psychiatrie eingeliefert, jedoch noch am gleichen Tage entlassen, denn sie sei in der Lage, sich selbst zu versorgen; es handle sich nicht um eine Psychose, sondern lediglich um eine Neurose. Ihr wird eine Therapie empfohlen, in die sie auch einwilligt.

Ihr Hausarzt meint, nun brauche sie wirklich Hilfe. Ihre Freundin ist dazu bereit, die meisten anderen von uns sind es nicht mehr. Nach der Verblüffung und einem erregten Austausch unter den Helfern tritt die darunterliegende Wut über das jahrelange Ausgenutztwerden, den Mißbrauch von Mitgefühl zutage. Einer ruft sie mehrmals an und droht ihr nun wirklich den Tod an.

Eine bekommt Weinkrämpfe. Einer möchte ihr ganz archaisch auf den Teppich scheißen. Eine will etwas zerstören und alle Geschenke zurück. Ich lese ein Buch über das Helfersyndrom, denn mir wird klar, daß es das neurotische Pendant zum Müchhausensyndrom ist – die Hilfssüchtige traf die Meisterin der Hilfsbedürftigkeit.

Noch einmal versucht Martina, mich mit einem sentimentalen Entschuldigungsbrief zu ködern. Nur die Krankheit sei Lüge gewesen, alles, was sie mir gegenüber gesagt habe, jedoch die Wahrheit.

Wie der Zufall es will, lese ich gerade eine passende Geschichte bei Peter Hoeg (“Von der Liebe und ihren Bedingungen in der Nacht des 19. März 1929“), in der eine Tänzerin ihren sie liebenden Tanzpartner jahrelang mit einer ähnlich hanebüchenen Lügengeschichte hinhält. Auf seine Frage, warum sie nie die Wahrheit erzählt habe, erwidert sie lakonisch: „Ich begriff, daß meine Unwahrheit ein großes Kunststück gewesen war. Daß ich dir erzählt hatte, was du hören mußtest, um so gut wie möglich zu tanzen.“

Hat mich die kunstvolle Inszenierung nicht auch zumindest für ein paar Jahre zu einem besseren Menschen gemacht? So gut werde ich nie wieder sein ...

alle Namen sind geändert

Ulla Tipke, 49, verheiratet, zwei Kinder, arbeitet seit zwanzig Jahren als Pädagogin