Junkie-Räder äußerst günstig

■  Amsterdam gilt als Hochburg des Fahrraddiebstahls. Doch in Wirklichkeit kommen die Räder gar nicht weg – sie fließen ein in eine gesellschaftlich anerkannte Kreislaufwirtschaft

Das Traurigste ist immer, den Schlüssel wegzuwerfen. So ein alter, gehüteter und oft gesuchter Schlüssel gehört doch nicht einfach in den Mülleimer – nur weil das Schloß dazu geknackt worden ist. Doch Montag morgen ist es wieder einmal soweit. Samstag abend noch fachgerecht abgeschlossen, und jetzt ist es weg: das vierte Rad in sieben Monaten.

Jedes Kind weiß, daß in Amsterdam Räder geklaut werden wie anderswo Feuerzeuge in Kneipen. „Fietsen jatten“ (Fahrräder klauen) ist hier Volkssport. In den Niederlanden verschwinden jährlich etwa eine Million Fahrräder, allein 180.000 davon in Amsterdam. Zahlen, die aber offensichtlich kaum einen Holländer beeindrukken, sondern eher fatalistisch aufgenommen werden: Selbst schuld, bei nur zwei Schlössern.

Also mal wieder auf zur Junkie-Brücke, mitten in der Stadt am Grimburgwal, und ein neues Rad besorgen. Meist kommt einem schon auf dem Weg dorthin ein Verkäufer entgegen. „Fiets kopen?“ raunt er, und der Handel ist schnell getätigt: Kurze Proberunde drehen, Bremsen testen, und auf keinen Fall mehr als fünfundzwanzig Gulden bezahlen – wenn's arg klappert, nur zwanzig. Nichts ist alltäglicher hier, hat man den Eindruck. Keiner guckt, zehn Meter weiter findet auch gerade eine Geldübergabe statt.

Fahrräder werden außerdem immer dann angeboten, wenn man jemanden auf dem Gepäckträger mitnimmt. Klar, hier fehlt was! Der Verkäufer fährt dann einige Meter nebenher, fragt, ob nicht Interesse am Erwerb seines zweiten Fahrzeugs besteht. Wird man handelseinig, geht der Händler zu Fuß weiter. Bis zu seinem Depot wenigstens. Manchmal werden einsamen Passanten auch spät nachts noch Angebote unterbreitet. Könnte ja sein, daß der nächtliche Fußgänger noch einen weiten Weg vor sich hat – da könnte es doch von Vorteil sein, unterwegs noch eben ein Fiets zu erwerben.

Zum Ritus gehört auch, sich umgehend neue Schlösser zuzulegen, am besten auf dem Flohmarkt am Waterlooplein. Macht noch mal zwanzig Gulden pro Stück. Im Angebot sind sowohl Ketten und als auch Exemplare, die zur Kategorie der Bügelschlosser zu zählen sind, deren Herkunft und Qualität aber wohl ebenso zweifelhaft sind wie die der Fahrräder. Deshalb kauft mal halt zwei, vorsichtige Menschen nehmen drei. Indes leuchtet die Anschaffung so recht nicht ein, werden sie doch im Handumdrehen geknackt. Eins nach dem anderen.

Die Polizei hat schon lange kapituliert. Fahrraddiebstähle werden in den meisten Fällen erst gar nicht gemeldet, und Aktionen dagegen haben nur noch Alibicharakter. Im Sommer letzten Jahres hat Bürgermeister Schelto Patijn Fahrradverkäufe auf offener Straße verboten. Die Kontrollen auf der Brücke haben seitdem zugenommen, manchmal schieben ein paar Uniformierte Wache. Stundenweise verlagert der Markt sich dann Richtung Bahnhof.

Der Fahrradklau ist offensichtlich ein allgemein akzeptierter Teil des holländischen Sozialsystems geworden. Niemand findet etwas dabei, auf einem gestohlenen Rad durch die Gegend zu fahren. Besser, die Junkies klauen Räder, als daß sie alten Damen die Handtaschen wegreißen oder irgendwo einbrechen, heißt es oft. So ein Fahrraddiebstahl ist schnell erledigt und tut keinem weh. Abgesehen von den Schlössern wird nichts beschädigt, niemand erliegt einem Herzanfall. Und Versicherungen sind sowieso nicht beteiligt, niemand würde hier auf die Idee kommen, ein altes Fahrrad zu versichern.

Der Kaufbetrag fürs Gebrauchte ist denn auch mehr als eine Art Leihgebühr anzusehen. Wenn die Frist abgelaufen ist, geht das Rad wieder zurück in den großen Pool. Und sozial korrekt ist natürlich nur, wer sich bei Ankunft in dieser Stadt – als Eintritt in den Circuit sozusagen – ein eigenes Rad mitbringt (oder im Geschäft eins kauft). Sonst wären ja irgendwann keine mehr da. Mit etwas Glück läßt sich die Ausleihe etwas verlängern, durch geschicktes Anschließen oder eine größere Anzahl Schlösser als am nebenan abgestellten Rad. Als Schloßverkäufer jedenfalls lebt es sich nicht schlecht in Amsterdam.

Ute Schuerings