Die fliegende Kotztüte

■ Ein Spezi der Lüfte schrieb die Geschichte eines vergessenen Flugutensils, das zu Beginn des Fliegens bedeutend war

taz: In „Izmirübel – Das Buch zur Tüte“ widmen Sie sich exklusiv der Historie des Spuckbeutels. Cui bono?

Gerd Otto-Rieke: Seit den dreißiger Jahren hat die Tüte in den Vordertaschen der Flugzeugsitze ein Schattendasein gefristet. Wie Galileo oder andere große Wohltäter der Menschheit habe ich das Augenmerk auf ein vernachlässigtes Objekt gerichtet und die Tüte zum ersten Mal wissenschaftlich unter die Lupe genommen, unter den Aspekten der Materialwirtschaft, der Soziologie , der Psychologie.

Bei hohem Seegang hängen die Passagiere reihenweise über der Reling ...

... reihernweise!

Einverstanden, reihernweise. Zu Beginn der Fliegerei waren das wackelige Kisten, die nicht sehr hoch flogen, in Höhen, wo viele Turbulenzen stattfinden. Die Flugzeuge hatten keinen Druckausgleich und teilweise offene Fenster. Daher der Aufdruck auf alten Tüten: „Nach Gebrauch bitte nicht aus dem Fenster werfen, sondern auf den Boden stellen.“ Es war an der Tagesordnung, daß man luftkrank wurde. Da hatten die Tüten durchaus ihren Sinn und ihre Bedeutung.

Heute ist die Tüte nur noch ein nostalgisches Übel an Bord?

Heute fliegen die Flugzeuge viel höher, viel ruhiger, und deshalb kommt die Luftkrankheit viel seltener vor. Überflüssig ist sie dennoch nicht ganz.

Österreichisch heißt es „Speisackerl“, schweizerisch „Chotz- Bütel“ und holländisch „Prullenzakje“. Wie ist der deutsche Terminus technicus?

Das gebräuchliche Wort ist Kotztüte. Als Spucktüte wird es euphemistisch verfremdet. Wir Sammler sagen Kotztüte.

Wie groß ist Ihre Tütensammlung?

Ich habe zwischen 700 und 800, darunter allein 10 verschiedene Versionen von der Lufthansa. Der Weltmeister der Sammler, ein Holländer, hat 4.000 Tüten und steht im Guinnessbuch der Rekorde.

Sie vergleichen die Kotztüten- Passion mit der Philatelie. Haben Sie eine „Blaue Mauritius“ in Ihrem Besitz?

Ich bin besonders stolz auf eine Tüte der Interflug, die der Kapitän auf dem Erstflug zwischen Dresden und Hamburg signiert hat. Und auf die von Niki Lauda signierte Tüte der Lauda Air. Oder die postalisch, als Briefumschlag gelaufenen Kotztüten. Alles Unikate.

Was macht eigentlich einen attraktiven Spuckbeutel aus?

Daß er sich von den anderen unterscheidet. Frustrierend sind die generischen Tüten, ganz in Weiß und ohne Aufschrift ...

... so eine hatte ich gerade beim Flug mit Air Liberté.

Eine Fluggesellschaft sollte auch im Detail an den Kundennutzen denken. Eine schöne Tüte kann sich durch das Design auszeichnen oder das Material. Oft ist ein Flug lang, und man braucht Dinge zum Nachdenken. Bangkok Airways hat eine kleine Plastiktüte mit einer Kordel. Bis zur Landung konnte ich die Frage nicht lösen: Wenn diese Tüte ihrem Verwendungszweck zugeführt wird, wie kann man mit einer Kordel diese Tüte so schließen, daß sie schließt?

Der korrekte Gebrauch von Schwimmweste und Sauerstoffmaske wird von Stewardessen demonstriert. Die Handhabung der Tüte nie.

Nein, die Fluggesellschaften verschließen die Augen vor dem zugegeben sehr unangenehmen Problem. Hier gibt es Handlungsbedarf.

Die Kotztüte von Delta Airlines ist siebensprachig: „Für Luftkrankheit“, darunter „zum beseitigen der tüte bitte einen flugbegleiter rufen“. Eine gute Gebrauchsanweisung?

Ja, das ist eine klare Linie. Da greift man doppelt gern zu. Nicht zuletzt ist sie – analog dem „Playboy“ QP als „Tüte des Monats Dezember“ ausgezeichnet worden.

Dagegen ist die Lufthansa-Tüte dezent grau, kommentarlos und hat rechts oben das Kranich-Logo. Kann sich die deutsche Tüte im internationalen Tüten-Konzert behaupten?

Nein, ich kann mich da nur dem Urteil der „Titanic“-Kollegen anschließen. Sie schrieben, die Lufthansa-Tüte erinnere an ein Brillenetui, und wer kotze schon gerne in ein Brillenetui.

Selbst in der Concorde bekommt man nur das Einheitsprodukt. Vor dem Kotzen sind wir alle gleich.

Hatten Sie schon mal den Anflug, eine Tüte benutzen zu müssen?

Ich selber – toi, toi, toi – bisher nicht. Allerdings kürzlich einer meiner Söhne direkt nach der Landung: Ich war sehr froh, daß eine Tüte griffbereit war, denn der Fall der Fälle trat ein.

Interview: Günter Ermlich

Gerd Otto-Rieke: „Izmirübel – Das Buch zur Tüte“. Alabasta Verlag 2000. München 1998; 48 S., 14 DM.