We're not Russian

Das Moskauer WG-Leben unterscheidet sich kaum von dem in Berlin. Doch seit der Krise muß die Jugend des Landes sich mit Klavierunterricht und selbstgemachter Marmelade durchschlagen  ■   Von Kirsten Küppers

Eine junge Frau in einem blau-weißen Spaghettiträgerkleid und Badelatschen öffnet die Tür. Wir sind verdutzt. In solch sorglosen Klamotten kann ich in meiner Berliner Ofenheizungswohnung allenfalls im brütenden Hochsommer rumlaufen. Aber das Bild von Moskau als Stadt der Kälte entpuppt sich für uns ebenso schnell als Mythos wie die berühmt-berüchtigte russische Schwermütigkeit und das Wodkatrinken aus Wassergläsern.

Tim und Julia, unsere beiden russischen Gastgeber, bieten uns zur Begrüßung grünen Tee an. Die Kommunikation läuft auf Englisch. Wir danken tapfer und trinken in der kleinen engen Küche schweißgebadet das heiße Getränk. In der Mietshauswohnung, in der wir eine Woche Rußland-Urlaub machen werden, herrschen subtropische Temperaturen. 32 Grad Minimum. Die Zentralheizung ist nur durch Öffnen des Fensters zu regulieren. Es gibt gleich Essen, verspricht uns das Pärchen. Wir sollen mitkommen auf eine Party von Freunden, die in einem der Plattenbauten nordwestlich des Zentrums wohnen. Es wird sicherheitshalber noch einmal telefoniert, ja, die Pizza reicht auch für die deutschen Gäste.

Nach einem nicht endenwollenden Marsch durch eine Plattenbausiedlung bringt uns ein klappriger Fahrstuhl in den 16. Stock, vor die Tür der winzigen Einzimmerwohnung von Mascha und Marina. Wir werden enthusiastisch begrüßt, die Turnschuhe meines Reisebegleiters sorgen bei den anderen jungen Turnschuhträgern für Bewunderung. Es gibt endlich was zu essen. Mit Heißhunger stürzen sich die knapp 15 Gäste auf die Attraktion des Abends: eine kleine Tiefkühlpizza. Dazu gibt es Rote-Bete-Salat, Pflaumensaft und Wein. Die Stimmung ist aufgekratzt.

Auf einem kleinen Fernseher läuft MTV-Moskau. Unsere russischen Bekannten fragen uns über deutsche Bands aus. Rammstein steht bei ihnen hoch im Kurs. Meinem Reisebegleiter und mir fällt auf, daß wir außer den Bolschoi-Donkosaken gar keine russische Musikgruppen kennen. Maxim, vor der Krise bei MTV-Moskau als Produktionschef tätig, gibt uns Nachhilfe, bombardiert uns mit Namen, spielt uns auf einem schrammeligen Kassettenrecorder stolz eigene Kompositionen elektronischer Musik vor.

Die Krise im letzten August hat das Leben sämtlicher hier Anwesender drastisch verändert. Noch vor einem Jahr hätte das Leben ganz gut ausgesehen, erzählt der 25jährige Graphiker Thomas. Nach seiner Anstellung bei einer Werbeagentur verdiente er nicht schlecht, war von zu Hause ausgezogen, hatte sich eine kleine Wohnung im Zentrum genommen – angesichts der komplizierten Wohnungsvergabepraxis in Moskau ein großer Schritt in die Unabhängigkeit. Nun ist Thomas wie fast alle hier arbeitslos. Auch die Gastgeberin Mascha im karierten Minirock hat ihren gutbezahlten Job als Journalistin verloren. Auf ihre berufliche Zukunft angesprochen, zieht sie ratlos ihre Augenbrauen nach oben und lächelt scheu. Nur unsere Mitbewohnerin Julia arbeitet noch als Architektin in einem der renommiertesten Architekturbüros der Stadt. Ihr Chef hat sie vor drei Monaten vor die Wahl gestellt. Entweder Entlassung oder für 10 Dollar im Monat dort weiter beschäftigt bleiben. Trotz der miesen Bezahlung bleibt Julia, aus Ehrgeiz, Stolz und des Lebenslaufs wegen. Überqualifiziert und unterbezahlt schlägt sich ihr blonder Freund Tim, eigentlich Musikredakteur bei einem Stadtmagazin, seit dem Aus der Zeitung im Oktober mit Klavier- und Englischunterricht durch. Das reicht eher schlecht als recht für die umgerechnet etwa 600 Mark Miete, die er für sein Zimmer bezahlen muß. Zum Durchwursteln schikken ihm seine Eltern Geld und Naturalien. Zu Hause zeigt er uns ein großes Glas Aprikosenmarmelade, die seine Mutter auf der ländlichen Datsche eingemacht hat. „Das bringt uns wieder über die nächste Woche“, beteuert er grinsend.

Die Leute hier sind stolz auf ihre sprichwörtliche Überlebensfähigkeit. Tim erzählt: „Als kleiner Junge war ich immer stolz auf unser Land. Die schwarzen Kinder in den New Yorker Ghettos taten mir leid. Jetzt wäre ich selbst lieber ein Ghettokid in Amerika.“

Für uns unterscheidet sich das WG-Leben kaum von dem in Berlin. Zum Frühstück backt uns Julia Warenikis, kleine Teigklöße, die in der Pfanne ausgebraten und mit saurer Sahne und Zucker serviert werden. Hauptbestandteil der Warenikis ist Tworog, ein säuerliches, quarkähnliches Produkt, das bei unseren Gastgebern spitze Freudenschreie hervorruft. Wir haben es in der Annahme, es sei Butter, versehentlich eingekauft.

Tim und Julia sind seit der Krise zu ambitionierten Hobbyköchen geworden. Abends ausgehen können sie sich nicht mehr leisten, da lädt man eben Freunde zum Essen ein. Als sie uns doch einmal das Moskauer Nachtleben vorführen wollen, wird viel Brimborium veranstaltet. Tim kramt eine rote Boss-Krawatte aus der Schublade und macht sich ans Schuhepolieren. Julia schwirrt nur noch mit Lockenwicklern und Wimpernzange von Bad zum Kleiderschrank und wieder zurück. Endlich wird der lange weiße Pelzmantel angelegt. Julia sieht aus wie eine Prinzessin.

In den „best Moscow-Clubs“, die wir zu sehen bekommen, wird House-Musik gespielt. DJs aus Berlin und London legen auf. Es gibt eine Modenschau. Magersüchtige Mädchen und breitschultrige Jungs führen trendy Unterwäsche vor. Die Disco-Besucher klatschen begeistert. Für die Führung durchs Nightlife bezahlen wir die Drinks (etwa 11 Mark kostet ein Gin Tonic) und die Fahrt nach Hause im Taxi (etwa 3 Mark 50). Der Taxifahrer kutschiert uns durch die menschenleere, gelb beleuchtete nächtliche Innenstadt. Im Radio läuft Vivaldis „Vier Jahreszeiten“.

Unseren letzten Abend verbringen wir doch nicht in einem mexikanischen Restaurant, wie ursprünglich von Tim in Multikulti-Moskau-Vorführeifer geplant. Statt dessen beschließen wir ein gemeinsam gekochtes Abendessen. Im Supermarkt, der den Produkten nach genauso in den USA stehen könnte, kaufen wir zwei Flaschen italienischen Soave, Brot, Reis und Eiskrem und bezahlen dafür an der Kasse etwa 80 Mark. Russische Produkte wären billiger gewesen, aber schwieriger aufzutreiben. Überdies bestehen unsere Mitbewohner plötzlich auf amerikanischem Eis, obwohl sie uns das Moskauer Eis noch am Vortag als „the best ice-cream in the world“ angepriesen haben.

Die allgegenwärtige Präsentation einer bunteren importierten Warenwelt, die wegen hoher Preise trotzdem kaum in Reichweite der Normalbürger liegt, macht den Glauben in eine wie auch immer geartete eigene russische Identität schwierig. „We're not Russian. We don't belong here“, erklärt Tim denn auch später beim Essen voller Inbrunst. Julia nickt treu. Tatsächlich hat Moskau seine junge Elite verraten. Die gute Ausbildung lohnt sich kaum, man wird immer noch um ein Leben wie in amerikanischen Fernsehserien betrogen, weil man es sich schlicht nicht leisten kann. Wie die meisten ihrer Freunde sehen die beiden in ihrer Heimat keinerlei Perspektive mehr, träumen einen naiv-euphorischen Traum vom Glück im Westen. Im nächsten Sommer wollen sie nach Paris. Sie würden dort ein paar Leute kennen, das mit der Aufenthaltsgenehmigung würde dann schon klappen. So paukt Tim seit einigen Monaten fleißig französische Vokabeln.

In Berlin-Schönefeld werden direkt beim Aussteigen des Flugzeuges die Pässe kontrolliert. Ein junger blonder Grenzschützer stürzt sich auf einen dunkelhaarigen Mann ohne Ausweispapiere. „Brauchst gar nicht erst aussteigen!“ herrscht er ihn an. „Wir schieben dich sofort ab.“