■ Die alte Nato, das westliche Verteidigungsbündnis, existiert nicht mehr. Die neue Nato soll Krieg führen können, weltweit
: Wachschutz der Reichen

50 Jahre nach ihrer Gründung führt die Nato das erste Mal Krieg gegen einen souveränen Staat. Dieser Satz, auch wenn er, anläßlich der Jubiläumsfeier in Washington, immer wieder geschrieben wurde, stimmt so nicht. Zwar wurde vor 50 Jahren in Washington eine Organisation gegründet, die sich Nato nannte, doch diese Organisation ist es nicht, die nun gegen Restjugoslawien Krieg führt. Die damals in Washington gegründete Allianz ist tot.

Es ist nicht ganz einfach, den Todestag anzugeben; klar ist nur der Anfang vom Ende. Als am 9. November 1989 in Berlin die Mauer fiel, begann auch das Sterben der Nato. Mit der Auflösung des Warschauer Paktes wurde eine Organisation, die 1949 als antikommunistische Schutzgemeinschaft, als militärischer Arm der kapitalistischen Demokratien zur Eindämmung des Kommunismus gegründet wurde, schlicht und einfach obsolet.

Die Nato, die heute Krieg führt, hat mit der ursprünglichen Organisation fast nichts mehr gemein. Das jetzt in Washington verabschiedete Konzept einer künftigen Bündnisstrategie ist deshalb auch viel mehr als eine Weiterentwicklung der ursprünglichen Allianz – es ist in der Substanz die Gründung eines neuen Militärpaktes.

Zwischen dem Fall der Mauer und der Neugründung der Nato liegen knapp zehn Jahre. Diese zehn Jahre sind eine schwer verdauliche Lektion Realpolitik, eine Realpolitik, die mit dazu geführt hat, daß die neue Nato nun Krieg führt. Es ist kein Zufall, daß diese neue Nato, noch bevor sie amtlich richtig registriert ist, bereits bombt. Im Gegensatz zu der alten Organisation, die bei Strafe ihres Untergangs eine Kriegsverhütungsorganisation war, ist die neue Nato eine Organisation, die Krieg führen können soll. Das ist keine moralische Wertung, es beschreibt lediglich die veränderte Funktion.

Die perverse Logik des Nuklearkrieges hat 40 Jahre lang dazu geführt, daß aus dem Kalten Krieg kein heißer Krieg wurde. Die Nato war dazu da, das Gleichgewicht des Schreckens aufrechtzuerhalten. Mit der Mauer in Berlin verschwand jedoch auch die Angst vor der Apokalypse. Als die Dekkel der Silos der Interkontinentalraketen geschlossen und die Zieldaten deprogrammiert wurden, war das Schlachtfeld wieder frei.

Die Kriege in der Zeit des atomaren Schreckens waren Stellvertreterkriege, die über einen gewissen Punkt hinaus nicht eskalieren durften. Das galt für den Nahen Osten wie für Indochina. Seit die Drohung der wechselseitigen atomaren Vernichtung in den Hintergrund getreten ist, ist diese Zurückhaltung nicht mehr notwendig. Die Nato bekam die theoretische Option, Krieg zu führen.

Zehn Jahre später ist die Organisation soweit umgewandelt, transformiert und in eine neue Form gebracht, daß sie auch praktisch dazu in der Lage ist, Krieg zu führen. Auch wenn es zynisch klingen mag: Daß die Nato jetzt Krieg gegen Restjugoslawien führt, hat vor allem damit zu tun, daß sie jetzt dazu in der Lage ist, und nicht damit, wie mancher uns glauben machen will, daß Miloevic sein Konto überzogen hat.

Die Entscheidungen zur Bildung einer neuen, kriegsführungsfähigen Nato, fielen Anfang der Neunziger. Daß die Nordatlantische Verteidigungsallianz 1991 nicht aufgelöst wurde, hatte mit bürokratischem Beharrungsvermögen und dem gemeinsamen Wunsch wichtiger europäischer und US-Politiker und Industrieller zu tun, diese Klammer zwischen den USA und Europa nicht aufzugeben. Darüber hinaus herrschte die nackte Ratlosigkeit.

Für einen kurzen Moment, während des damals noch sogenannten KSZE-Gipfels in Paris, als Gorbatschow für den Bau eines neuen europäischen Hauses warb, schien es sogar so, als könne Frieden in Europa politisch organisiert werden. Für einen Moment schien es so, als hätten alle aus der Drohung mit der totalen Vernichtung gelernt und seien nun bereit, Konfliktverhütung und einen weltweiten Schlichtungsmechanismus an die Stelle militärischer Drohung zu setzen. Die UNO erlebte eine kurze Blüte, die OSZE sollte den Frieden in Europa wahren.

Es ist nicht nur die Schuld des Westens, daß diese historische Chance nicht dazu genutzt wurde, wirklich neue Strukturen aufzubauen. Für viele blutige Konflikte, vor allem die im Gebiet der früheren Sowjetunion, trägt der Westen keine Verantwortung. Die entscheidenden Schlachten auf dem Weg in die neue Nato waren aber nicht die Bürgerkriege im Kaukasus oder in Somalia. Die entscheidenden Ereignisse waren der Golfkrieg II und der Kriegsausbruch zwischen Serbien und Kroatien.

Als es wirklich ernst wurde und ein neues Konfliktmanagement möglicherweise auch westliche Interessen beeinträchtigt hätte, machte die Vormacht USA klar, daß sie ein internationales Krisenmanagement nicht akzeptiert, sondern sich als Ultima ratio nur auf ihre Waffen verläßt. Vor Ausbruch des Golfkriegs II war Gorbatschow bereit, ohne Vorbedingungen mit den USA und Europa zu kooperieren. Primakow reiste als sein Sonderbotschafter nach Bagdad, um Saddam Hussein zu einem Kompromiß zu bewegen. Im Sicherheitsrat wurde pausenlos verhandelt. Man kann noch immer spekulieren, ob der gemeinsame Druck aller wichtigen Mächte Saddam nicht doch zum Rückzug aus Kuwait bewegt hätte.

Die USA wollten die Entscheidung auf dem Schlachtfeld, und die Russen mußten zum ersten Mal nach dem Ende des Kalten Krieges ohnmächtig erkennen, daß ihre Interessen zweitrangig waren. Die USA und die Briten führten Krieg, die Nato war damals noch nicht einsatzbereit.

Der Krieg in Jugoslawien erwischte den Rest Europas im denkbar ungünstigsten Moment. Die Diskussion um neue Strukturen gemeinsamer Sicherheit in Europa hatte gerade begonnen, als Serbenführer Miloevic und der kroatische Nationalist Tudjman beschlossen, daß die Zeit für ihre eigenen Staaten gekommen sei. Die westeuropäische Union stand dieser Herausforderung hilflos gegenüber, eine OSZE, die wirksam hätte eingreifen können, gab es noch nicht, und die Nato trauerte immer noch über den Verlust der russischen Bedrohung. Letztlich aber schien der militärische Schutz der Nato den Europäern in West und Ost als der einzig sichere Hafen. Die Diskussion um Konfliktprävention wurde bereits erstickt, bevor überhaupt die Möglichkeit bestanden hatte, Strukturen zur Konfliktverhütung in Europa zu entwickeln. Als sich zeigte, daß auch die UNO-Blauhelmtruppen nicht in der Lage waren (oder nicht in die Lage versetzt wurden), das Gemetzel in Bosnien zu beenden, schlug die Stunde der neuen Nato. Dieser Prozeß ist jetzt abgeschlossen. Die neue Nato steht, und sie ist willens und in der Lage, Krieg zu führen. Die Diskussion, ob diese neue Nato so etwas wie der bewaffnete Arm von amnesty international ist, ist nur vor dem Hintergrund der Genese der Organisation auf dem jugoslawischen Kriegsschauplatz und auch nur in Deutschland verständlich.

„Nie wieder Auschwitz“ zur Begründung eines Nato-Kriegseinsatzes, ist eine sehr deutsche Debatte. Auch prinzipielle Fragen, wie die nach der Mandatierung zukünftiger Nato-Einsätze durch die UNO, werden in dieser grundsätzlichen Form nur in Deutschland diskutiert. Die Entwicklungen, das zeigt das Washingtoner Dokument der 50-Jahr-Feier, ist längst darüber hinweggegangen. Die UNO ist nicht der Auftraggeber der Nato. Im Konfliktfall wird man sich um Einvernehmen im Sicherheitsrat bemühen, ein Veto Rußlands oder Chinas letztlich aber mit Bedauern zu den Akten legen. Deshalb ist für die USA eine Reform der UNO auch nicht weiter wichtig.

Dasselbe gilt für den geographischen Raum, den die Nato zu ihrer Einflußsphäre zählt. Letztlich gehört alles zum euro-atlantischen Raum, was die Interessen der Nato-Staaten tangiert. Angefangen von sogenannten Schurkenstaaten bis zur Sicherung des Ölnachschubs. Entwicklungen, die den Reichtum und die Sicherheit, also die Sicherung des Reichtums der Ersten Welt, mit der die Nato ja weitgehend identisch ist, bedrohen, werden von der Allianz zukünftig als Herausforderungen betrachtet, gegen die man notfalls auch militärisch einschreiten will. Wann und wie dies geschieht, wird von Fall zu Fall und ganz pragmatisch entschieden.

Die neue Nato ist, auch wenn sie jetzt im Kosovo zugunsten einer bedrohten Minderheit eingreift, alles andere als eine Menschenrechts-Interventionsstreitmacht. Die neue Nato ist der Wachschutz für die Reichen dieser Welt. Jürgen Gottschlich

Der Aufstieg der neuen Nato ist eine Geschichte verpaßter ChancenMit oder ohne UNO – diese Frage wurde in Washington längst entschieden