„Ich tue mir Staatsfernsehen nicht an“

■      E-Mail aus Belgrad: Die taz dokumentiert in loser Reihenfolge die Briefe der 24jährigen Studentin Andjela an ihre Freunde beim Augsburger Jugendmagazin „X-Mag“, ihren Versuch, mit der Außenwelt in Kontakt zu bleiben

Lieber Albert,

vor dem Krieg hatte Belgrad drei staatliche Fernsehkanäle und sieben private. Jetzt haben wir insgesamt nur noch vier. Da das Fernsehen in Jugoslawien das wichtigste Medium ist, wurde es immer schon direkt oder indirekt von der Regierung kontrolliert. Einige Politiker verdanken ihre Karriere radikal vorgetragener Kritik an den unobjektiven Sendungen des Staatssenders RTS.

Einer von ihnen ist der stellvertretende Premierminister Vuk Drakovic, der die ersten großen Demonstrationen in Belgrad am 9. März 1991 gegen das Programm von RTS organisiert hat. Dieser Protest ist als erster serbischer Kampf für Demokratie in Erinnerung geblieben. Zu dieser Zeit war Drakovic natürlich nicht in der Regierung, er war der bekannteste Andersdenkende und zugleich Miloevic' härtester Gegner. Als das RTS-Gebäude vor zwei Tagen bombardiert wurde, sah ich ihn auf BBC World, wie er die Zerstörung beklagte. Dabei hatte er das Gebäude einstmals selbst „Bastille“ genannt. Das nenne ich wahrlich paradox.

Der Angriff auf RTS forderte viele Opfer, was tragisch ist und von allen verurteilt werden sollte, aber RTS war und ist immer noch das offenkundigste Symbol von Miloevic' Regime und der schamlosen Manipulation der Massen. Die Behauptung, RTS sei „eine Institution, die die Wahrheit und Freiheit verteidigt“, ist Heuchelei. Dank RTS und seiner Propaganda ist die öffentliche Wahrnehmung verzerrt. Ich persönlich tue mir die staatlichen Fernsehkanäle seit Jahren nicht mehr an.

Während der Studentenproteste 1996/97 baten mich Freunde aus dem Ausland, die Abendnachrichten für sie zu übersetzen. Ich erinnere mich, daß mich diese Lügen tatsächlich anekelten. Sie nannten uns Studenten „Faschisten“, behaupteten, daß wir von fremden Ländern Geld bekämen, um eine Rebellion auszulösen. Ich habe das nicht vergessen, und offen gestanden habe ich deshalb auch keine Träne für RTS vergossen. Wären da nicht die Toten und Verletzten, ich würde sogar feiern. Und ich bin mir sicher, daß ich nicht die einzige wäre.

Ein Arbeitskollege meiner Mutter sagte: „Erst haben sie CK bombardiert (das Gebäude in dem sich das Hauptquartier der Sozialistischen Partei befand), am Tag darauf haben sie Slobos Villa getroffen und am dritten Tag RTS. Wenn das so weitergeht, werde ich noch Alkoholiker!?

Durch die eingeschränkte TV-Berichterstattung kommen jetzt die interessantesten, alternativen Informationen aus der Gerüchteküche. Wenn ich alles glauben würde, was die Leute erzählen, würde ich wahrscheinlich verrückt werden. Zum Beispiel sollen wir kein frisches Gemüse mehr essen, da es „vom ausstrahlenden Uran der Raketensprengköpfe verseucht“ sein soll. Das Leitungswasser sei ebenfalls vergiftet: Die Firma „Prva Iskara“ in Baric habe Toxine in die Save geleitet. Die Belegschaft mußte dies angeblich tun, da die Firma Angriffsziel der Nato sei und natürlich die ganze Stadt ersticken würde, wenn das Gift in die Luft käme. Deshalb hätten sich die Mitarbeiter für das „kleinere Übel“ entschieden. Soviel zur Umwelt.

Dem neuesten Militärklatsch zufolge wird Belgrad mit einem „Bombenteppich“ ausgelöscht, sobald die Nato mit Bodentruppen angreift. Angeblich versucht die Nato zur Zeit, via Sendeanlagen der Nachbarländer Ungarn und Rumänien, das serbische Territorium mit ihrer Version der Geschichte zu versorgen. Und das sind nur die wichtigsten Szenarien: Zur täglichen Dosis Gerüchte kommen die Überlegungen, welche Ziele in der Nacht beschossen werden, wie viele Flugzeuge starten und wie viele Raketen wohl abgeschossen werden: unser „Frühstücksthema“.

So unglaublich diese Geschichten klingen mögen: Ich kann garantieren, daß sie nicht weiter von der Wahrheit entfernt sind als unsere Fernsehnachrichten. Ich habe feststellen müssen, wie relativ Wahrheit sein kann. In diesem Chaos von Information und Desinformation habe ich aufgehört, mich dafür zu interessieren. Ich stelle mir einfach weiter vor, daß dies alles bald zu Ende ist und daß wir in unseren Alltag zurückkehren. Doch wie es aussieht, wird das nichts.

Nichts wird mehr so sein wie früher. Ein Freund, der den Krieg in Kroatien miterlebt hat, riet mir unlängst, mich damit abzufinden, daß die Vorkriegszeit nicht das „normale“, sondern das „vorherige“ Leben war. Was mir niemand erklären kann, ist, wie die Zukunft aussehen wird. Worauf sollen wir hoffen?

Der britische Freund, den ich bereits in einem früheren Brief erwähnt habe, schrieb mir, daß die Nato uns vor dieser Tyrannei rettet und, wenn dies zu Ende ist, ich in einem freien Land leben werde. Ich entschied mich, gar nicht erst zu antworten. Ich hätte ihm doch nur sagen können, wie naiv er ist. Er würde mich dann wieder als „blind“ bezeichnen, und wir könnten so weitermachen bis in alle Ewigkeit. Genau so kommt mir dieser Krieg von Anfang an vor: Ein Blinder führt den anderen.