Der lange Abschied

■ Hier ein wenig Glamour, dort ein wenig Nostalgie: Bevor die Umbauarbeiten für Claus Peymann beginnen, feierte das Berliner Ensemble noch einmal sich und seine Vergangenheit

50 Jahre nach seiner Gründung hat das Berliner Ensemble sich von sich selbst verabschiedet. Im Abschied nehmen war es geübt; Tote und Scheidende haben in diesem Theater oft die Hauptrollen gespielt. Bevor nun vom 1. Mai an fünf Monate lang für Claus Peymann umgebaut und ausgebessert wird, folgte eine Dernière der anderen und wurde Marianne Hoppe zum 90. Geburtstag noch einmal groß gefeiert. Manchmal keimte gar der Verdacht, daß dieser Abschied eigentlich im November 1989 begonnen hat. Was natürlich Blödsinn ist, denn auch danach ging es hoch her an diesem Theater. Auch wenn all die großen Regisseure und Schauspieler sich gegenseitig und an den komplizierten Verwaltungs- und Eigentümerbestimmungen aufgerieben haben und man am Ende mehr das strukturelle Scheitern als die Inszenierungen bestaunte. Am nun wirklich allerletzten Abend ist denn auch irgendwie die Luft raus. Kein rauschendes Fest, kein anklagendes Tribunal. Den regulären Vorstellungsbetrieb rahmt ein Extra-Programm, durch das zwei gegenläufige Lüfte wehen sollen: hier ein bißchen Glamour, dort ein bißchen Nostalgie. Im Hof, von wo aus man schon den Beginn der Umbaumaßnahmen begutachten kann, wird aber eher unfeierlich herumgestanden.

„Herr Suschke, wie fühlen sie sich jetzt?“ Achselzucken. Was soll man da auch sagen. Martin Wuttke, der schon nach 10 Monaten aus der Intendanz geekelt wurde, soll sich trotzdem noch einmal richtig aufgeregt haben, hört man. Und überhaupt, das BE habe ja noch so einige Leichen im Keller liegen. Die werden dort künftig seliger schlummern denn je. Die „Neue Zeit“ wird sich mehr mit Zukunft als Vergangenheit beschäftigen wollen. Skeptisch sind alle, die Pensionierten, die Übernommenen, die Entlassenen sowieso. Ein Ausdruck dieser Skepsis hängt groß überm Portal: „Schmutz ist Leben, ein Widerstand gegen die Ordnung. Eine schmutzige Haupstadt ist gefährlich für eine reinliche Regierung. (...) Angst vor Schmutz ist Angst vorm Sterben.“ Heiner Müller, eine Stimme aus der Gruft. Nach der letzten, lange beklatschten Aufführung der „Bauern“ werden Kostüme und Requisiten versteigert. Jürgen Kuttner gibt den Auktionator und preist die praktischen und auratischen Werte der Reliquien: Ein von Helene Weigel entworfener Kantinenstuhl aus Stahl und Leder, Mindestgebot 50 Mark, geht für 510 Mark weg. Ein eleganter Herr zieht zufrieden mit einem der Pappmaché-Feldmarkierungssteine aus den „Bauern“ ab. Aber was anstellen mit dem sackartigen, kiloschweren „Courage“-Rock, den nicht mal die Weigel, sondern bloß Gisela May getragen hat?

Im Foyer findet derweil etwas statt, das „Whiskey & Cigars“ heißt. Tatsächlich werden beide Genußmittel in mehreren Sorten von preiswert bis exquisit zum Verkauf angeboten. Doch offenbar laden Brechts und Müllers bourgeoise Laster nur noch bedingt zur Nachahmung ein - bei letzterem hat man ja gesehen, wie es ausgeht. Also paffen die Menschen auf den roten Plüschfauteuils gewöhnliche Zigaretten, machen abwartende Gesichter oder haben Angst vorm Sterben. Passiert denn sonst nichts? Bleibt noch der Ort, wo im Theater angeblich immer die größten Exzesse gefeiert und die heißesten Tränen vergossen werden: die Kantine. Unter den vielen beeindruckend scheußlichen Berliner Theaterkantinen ist die des Berliner Ensembles mit ihrem ranzigen Ambiente einer schlagenden Verbindung ein Höhepunkt. Das Volk drängelt zur Theke, um der allgemeinen Bierseligkeit Folge zu leisten. Der Mann, der die leeren Flaschen abräumt, ruft gut gelaunt: „Ja ja, früher war ich mal Theaterkritiker am BE, und jetzt...“

Man sieht rote Nelken am Revers, schwitzende Gesichter, mehr lachende als nachdenkliche. Als sich schließlich kurz nach Mitternacht jemand ans Klavier setzt, das Gläserklirren und Kneipengeschrei kaum übertönen kann und eine Stimme vom Meer zu singen beginnt, schleicht sich ein winziger Verzweiflungston in die Lustigkeit. Rasch nach draußen. In Brechts bronzenem Schoß liegen seltsamerweise gelbe Nelken.

Eva Behrendt