„Rußland ist auf sich allein gestellt“

■ Für Professor Machmud Achmetowitsch Garejew, Präsident der Russischen Akademie der Militärwissenschaften, schält sich eine neue Weltordnung heraus, die unter der Ägide der USA steht

taz: Die russische Öffentlichkeit läßt moralische Motive, die die westliche Staatengemeinschaft zum Eingreifen im Kosovo bewogen haben, grundsätzlich nicht gelten. Wie sieht das ein Militär?

Machmud Achmetowitsch Garejew: Das Kosovo und die Probleme mit Belgrad dienen nur als Vorwand. 1914 brach der 1. Weltkrieg auch nicht aus, weil der Wiener Thronfolger ermordet worden war. Es bot den Anlaß loszuschlagen. Die Vertreibung der Kosovaren ist daher auch nur eine Ausflucht. Tatsächlich wird zur Zeit vollzogen, was sich seit mehr als einem Jahrzehnt abzeichnet: Die Ergebnisse des 2. Weltkrieges werden einer Revision unterzogen. Es schält sich eine neue Weltordnung heraus, in der eine kleine Gemeinschaft führender westlicher Staaten unter der Ägide der USA das Geschehen diktiert und dominiert. Die Botschaft auf dem Balkan ist eindeutig: Stört unsere Kreise nicht. Die Logik, mit der der Krieg begründet wird, erinnert an einen russischen Witz. Eine Ehefrau sagt zu ihrem Mann: So oft hast du mich betrogen, daß ich nicht mehr weiß, wer der Vater meiner Kinder ist.

Ist das nicht etwas einseitig?

Keiner kann abstreiten, daß Miloevic eine Menge Fehler gemacht hat. Doch rechtfertigt das einen Krieg? Marschall Tito hat den Albanern Autonomie eingeräumt, Miloevic hat sie beseitigt. Das Fiasko war somit seit langem vorprogrammiert. Keiner will die Serben von Schuld freisprechen. Selbst Tito hatte klare Vorbehalte: Je schwächer Serbien, räumte er offen ein, desto stärker Jugoslawien. Mit den Nachbarn hat Serbien nie recht in Frieden zusammengelebt.

International spielt Rußland die Rolle des konservativen, am Buchstaben des Gesetzes klebenden Juristen. Ein statisches Rechtsverständnis liegt vor, das mit der flexiblen Rechtshandhabung im Innern auffallend kontrastiert ...

Das Instrumentarium zur Regelung internationaler und ethnischer Konflikte muß grundsätzlich überarbeitet werden. Vor dem Hintergrund der Globalisierung spielen ethnische Konflikte eine zunehmende Rolle. Früher hielt die Blockkonfrontation diese Zwistigkeiten unter dem Teppich. Das ungeklärte Problem, wie das Recht der Nationalstaaten auf territoriale Integrität mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker in Übereinstimmung zu bringen ist, stellt sich immer schärfer. Wer erklärt uns, warum Georgien aus der UdSSR ausscheiden konnte, Abchasien sich aber nicht von Tiflis lösen darf? In solchen Situationen schlägt die Stunde der Feldkommandeure. Ich befürchte, das wird auch die Folge der Nato-Aktion sein. Glaubt jemand ernsthaft, das Kosovo ließe sich noch in der jugoslawischen Föderation halten? Um Miloevic zu Fall zu bringen, schreckt die Nato auch nicht davor zurück, Montenegro und die Wojwodina mit in den Konflikt hineinzuziehen und innerjugoslawische Widersprüche zu instrumentalisieren. Eine klassische Strategie, den Gegner zu destabilisieren, wenn man den Einsatz von Bodentruppen scheut.

Wird Moskau die defensive Militärdoktrin, die innenpolitischen Sicherheitsgefahren Priorität einräumte, neu überarbeiten?

Es gilt einen klaren Kopf zu bewahren. Natürlich melden sich Stimmen zu Wort, die verlangen, die Armee und den militärisch industriellen Komplex (MIK) jetzt besonders zu unterstützen und die Produktion von neuen Waffensystemen aufzunehmen. Kurzum, in die Verhaltensmuster der UdSSR zurückzufallen. Die USA scheinen das sogar zu wollen. Der Westen hat den patriotischen Kräften unschätzbare Dienste erwiesen. Blickt unsere Führung jedoch in die Zukunft, läßt sie sich nicht darauf ein. Das Verhältnis zum Westen darf keinen Schaden nehmen, und auch mit der Nato müssen wir weiterhin kooperieren.

Die hitzigen und bellizistischen Äußerungen aus den Reihen der Generalität klangen aber ganz anders?

Was bleibt anderes übrig, als verbal auf die Pauke zu hauen und auf uns aufmerksam zu machen? Rein praktisch haben wir keine Möglichkeit, offen Unterstützung zu leisten. Wenn wir nun auch zum Kosovo unseren Mund hielten, würde man uns dann noch für vollnehmen? Konfrontation läuft den langfristigen Interessen Rußlands zuwider. Wir haben gar keine andere Wahl. Ich denke schon Clintons Nachfolger wird seine Politik gegenüber Rußland korrigieren. Auch die USA sind kein homogener Block. Die Vertreter des MIK in den USA sind eher daran interessiert, daß Rußland weiterhin eine Ordnungsrolle in Eurasien spielt. Im Gegensatz zu den Lobbyisten der Rohstoffindustrie. Sie glauben, je schwächer wir sind – und vom Zerfall bedroht –, desto leichter der Zugriff auf unser Öl und Gas. Der Verteidigungscharakter unserer Militärdoktrin muß auf jeden Fall erhaltenbleiben. Gleichzeitig gilt es zu konstatieren: Das Ende der Blockkonfronation führte nicht, wie Gorbatschow und seinesgleichen annahmen, automatisch zu freundschaftlichen Beziehungen mit dem Westen. Die Rechnung ging nicht auf. Rußland ist auf sich allein gestellt. Zudem hat die Illusion in unserem Teil der Welt Schaden genommen, die Nato sei ein Bündnis, das Demokratie und Menschenrechte verteidige. Das hat sich nun doch als ein ziemlicher Bluff erwiesen.

Wächst die Bedeutung der strategischen Atomwaffen, um die seit der Nato-Osterweiterung entstandene Schieflage zuungunsten Moskaus im konventionellen Rüstungsbereich auszugleichen?

Es herrscht in politischen und militärischen Zirkeln die irrige Auffassung vor, solange wir über Atomwaffen verfügen, ist die Sicherheit gewährleistet. Wichtiger scheint mir , die Wirtschaft anzukurbeln und den maroden Staatsaufbau mit bebensicheren Pfeilern zu versehen. Die KSE-Vereinbarungen sind inzwischen hinfällig, und wir sollten die Pariser und Wiener Vereinbarungen neu überdenken. Aber nicht, um damit im konventionellen Bereich eine neue Phase der Hochrüstung zu forcieren. Bei den Nuklearwaffen haben die USA und wir nach dem Ende des Kalten Krieges die einmalige Chance verpaßt, sie ein für allemal zu ächten. Jedenfalls war das bis zum Jugoslawienkonflikt meine Position. Inzwischen habe ich daran Zweifel. Wird ein Staat ohne Atomwaffen ernst genommen? Hier liegt eine tragische Konsequenz der Strafexpedition auf dem Balkan: Kleinere Staaten dürften jetzt versuchen, mit allen Mitteln in den Besitz solcher Waffen zu gelangen. Hat man in Washington im Vorfeld darüber nicht nachgedacht?

Werden sich diese Staaten womöglich mit der Bitte um Assistenz an Rußland wenden?

Staaten, die heute noch um die Aufnahme in die Nato buhlen, könnten eines Tages versucht sein, wieder unter den Nuklearschirm Moskaus zu schlüpfen.

Experten behaupten, die Luftabwehr und das Warnsystem Moskaus wiesen inzwischen Lükken auf ...

... Finanzierungsengpässe bestehen. Verteidigen können wir uns aber noch.

Die Duma hat einen Freibrief erteilt, den Verteidigungshaushalt nach Bedarf zu erhöhen ...

Die Entscheidung schürt Illusionen. Was uns im vergangenen Jahr zugesichert wurde, davon haben wir bisher weniger als 70 Prozent erhalten. Was soll das Gerede über zusätzliche Mittel dann? Interview: Klaus-Helge Donath, Moskau