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: Den Holocaust überlebt - und?

■ Von Joanna Wiorklewicz

Als ich den Menschen zuhörte, die die Namen der von den Nazis ermordeten Berliner Juden verlasen, mußte ich an die Überlebenden der Katastrophe denken.

Meine Tante Felicja zum Beispiel. Gerade emeritiert als Dozentin einer jüdischen Hochschule im Bundesstaat Washington. Sie lag die ganze letzte Pessach-Woche deprimiert im Bett und starrte die Zimmerdecke an. Es ging ihr nicht gut. Seit vielen Jahren, immer wenn es ihr nicht gutging, rief sie ihren Therapeuten an. Diesmal konnte sie nicht, weil der Therapeut gerade Ferien machte. Aber es ging ihr so schlecht, daß sie sich entschied, ein Krisentelefon anzurufen. Sie wollte ihre Ängste schildern und versuchte ihre Geschichte zu erzählen. Meine Tante Felicja ist genauso wie meine Mutter kurz vor dem Krieg in Warschau geboren und mußte zweimal im Leben fliehen: einmal als Kind aus dem Ghetto und einmal aus dem kommunistischen Polen. Ihre Mutter flüchtete nur einmal, um frei zu sein. Sie sprang aus dem vierten Stock eines brennenden Hauses während der ersten Tage des Ghettoaufstands. Ungefähr zur gleichen Jahreszeit wie heute, im April 1943.

Je älter meine Tante Felicja wird, desto öfter spürt sie den Zwang, ihre Mutter zu folgen. Ganz besonders während der Pessach-Woche. Dann will sie auch aus dem Fenster springen, obwohl sie im Erdgeschoß wohnt. Doch bevor sie das der Psychologin am Krisentelefon zu Ende erzählt hatte, wurde ihre Wohnungstür von sechs amerikanischen zwei Meter großen Polizisten eingeschlagen. Sie stürzten sich auf meine kleine Tante Felicja und warfen sie zu Boden. Ihre Hände samt Telefonhörer wurden in Handschellen gelegt. In ihrem geblümten Pyjama wurde sie ohne Erklärungen in einem psychiatrischen Krankenhaus abgeliefert. Dort hat sie die letzte Pessach-Nacht 1999 in einer Zelle verbracht. Hinunterspringen konnte sie da nicht. Erst als Ostern vorbei war, wurde sie wieder freigelassen. Seitdem redet sie mehr mit den Anwälten als mit Psychotherapeuten.

Und ich habe durch diese Geschichte begriffen, daß die alten Ängste meiner Tante und meiner Mutter auch heute noch lebendig sind. Wenn ich jetzt die verweinten Kindergesichter auf dem Balkan sehe, frage ich mich: Wie viele werden in der Zukunft einen Psychotherapeuten brauchen? Und wie viele müssen mit ihrem Kindheitstrauma allein zurechtkommen? Und wie viele Polizisten wird die Welt brauchen, um zu verhindern, daß die erwachsenen Kriegskinder – in Jugoslawien, Tschetschenien, Vietnam, Indonesien, Ruanda und weiß Gott wo sonst noch – sich selbst weh tun?