■ Der Krieg im Kosovo wird irgendwann zu Ende sein. Doch die neue Nato-Strategie – Interventionen weltweit – bleibt
: Das Modell Kosovo

Gestern die Sowjetunion, heute der Balkan und morgen der Rest der Welt. So läßt sich das neue strategische Nato-Konzept, das kürzlich verabschiedet wurde, am griffigsten beschreiben. Ein Freibrief für weltweite Nato-Interventionen, die vor allem der europäischen Peripherie wie etwa der arabischen Welt den Schrecken in die Glieder fahren lassen.

Die Hoch-Zeit des US-Interventionismus unter Reagan in den 80ern mit der von ihm geschaffenen schnellen Eingreiftruppe wird nun von dem neuen Nato-Konzept der „Crisis Response Operations“ von Amerikanern und Europäern gemeinsam überholt.

Im Schatten der Kosovo-Krise wurde die Nato flugs von einem Verteidigungsbündnis gegen jedwede Aggression auf eigenem Territorium in eine Allianz umgeschmiedet, die zur Verteidigung gemeinsamer Interessen auch „out of area“ einsatzbereit sein soll. Der zukünftige Operationsraum soll die ganze Welt sein, und die Nato will jederzeit Truppen für „Krisen-Reaktions-Operationen“ zur Verfügung haben – „manchmal ohne große Vorwarnung, weit entfernt von den heimatlichen Stationierungsorten, einschließlich eines Operationsgebietes außerhalb des Bündnis-Territoriums“, wie es in dem Dokument unverhohlen heißt.

Der Feind für die Stabilität und Sicherung des euro-atlantischen Raumes ist nicht mehr territorial begrenzt, sondern global. Er kann überall auftauchen. Etwa an der bisherigen unstabilen südöstlichen Grenze des Bündnisses, also in der arabischen Welt. Zumal für die Strategen in Brüssel die Sicherheit Europas, wie im Dokument erwähnt, eng mit dem Mittelmeerraum verbunden ist, wo sie neue Risiken in „der Entstehung regionaler Krisen an der Peripherie des Bündnisses“ ausgemacht haben. Derartige Krisen, so heißt es, könnten aus „ethnischen, religiösen Rivalitäten, Gebietsstreitigkeiten, unzureichenden oder fehlgeschlagenen Reformbemühungen und der Verletzung von Menschenrechten“ entstehen. Allesamt Kriterien, die jederzeit an diversen Punkten in der arabischen Welt anwendbar sind.

Daß es sich dabei nicht nur um ein theoretisches Papier, sondern um eine konkrete Handlungsanweisung handelt, dafür werden schon allein die von der Nato in dem Papier aufgezeigten Bedrohungsszenarien sorgen, die in Zukunft einen Einsatz rechtfertigen sollen. In dem Katalog findet sich allzu Bekanntes, das bisher schon diverse US-Interventionen legitimieren mußte. Etwa das Eingreifmotiv „Terrorakt“. Man braucht nicht allzuviel Phantasie, um sich vorzustellen, was das in Zukunft bedeuten könnte. Werden dann etwa Nato-Kampfbomber in Richtung Sudan oder Afghanistan aufsteigen, wenn Ussama Bin Laden irgendeine Institution eines Nato-Mitglieds irgendwo auf der Welt in die Luft sprengt?

Wird Nato-Sprecher Jamie Shea dann auch das Ganze am liebsten unter den Teppich kehren, wenn es sich, wie im Falle der von US-Raketen zerstörten vermeintlichen Chemiewaffenfabrik im Sudan, um einen Schnellschuß auf eine Ente herausstellt?

Oder nehmen wir ein anderes erwähntes Bedrohungsszenario, das zukünftig eine Intervention rechtfertigen wird: die „Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen“. Ein Rezept, das nicht nur als Doktrin diverser US-Präsidenten zur Sicherung der Ölzufuhr diente, sondern oft genug auch Anlaß für ein militärisches Eingreifen am Golf war, nicht zuletzt beim letzten Golfkrieg.

Bekannt klingt auch das Eingreifmotiv rund um die berechtigte Sorge über die Verbreitung von ABC-Waffen, die einige Staaten an der euro-atlantischen Peripherie sich beschaffen wollen, wie es in dem Papier heißt. Militärisches „Gewappnetsein“ geht weiterhin vor „politischen Präventivschritten“. Die Forderung nach ABC-Waffen-freien Zonen spielt in der Zukunft der Nato-Militärs natürlich keine Rolle. Sie unterscheiden weiterhin zwischen Massenvernichtungswaffen in guten oder in bösen Händen. Denn die nukleare Option will sich die Nato schließlich keinesfalls nehmen lassen.

Alle Bedrohungsszenarien und die Antwort der Nato zusammengefaßt – das klingt so, als hätten die USA ihre Rolle als Weltpolizist nun für 18 Nato-Länder formuliert. Verwunderlich ist, daß dieses Dokument unwidersprochen von allen Nato-Staatschefs unterzeichnet wurde. Offenbar hat das Kosovo sie alle auch für die Zukunft blind gemacht. Wäre der 50. Nato-Geburtstag nicht mit dem Krieg im Kosovo zusammengefallen, der Widerspruch wäre wohl etwas lauter ausgefallen. Oder schärfer gesagt: Diese Doktrin wäre nicht denkbar gewesen.

Das gilt nicht nur für die Art der Operationen, sondern auch für den legalen Rahmen. Der UN-Sicherheitsrat wird in dem neuen Nato-Dokument nur noch am Rande erwähnt. Der gesamte Geist des Dokuments blendet die UNO eher aus. Die Nato wird das neue Instrument, mit dem Entscheidungen außerhalb des Sicherheitsrats durchgesetzt werden. So erhebt sich die Nato zum Richter über internationales Recht. Und so wird das Recht des Stärkeren zur endgültigen Prämisse des internationalen Rechts.

Im Irak ging es noch darum, wie eine UN-Resolution und der Einsatz von Gewalt zu interpretieren sind – im Kosovo gibt es nicht einmal mehr eine solche Resolution. Und das soll das Modell für die Zukunft sein.

„Die Nato muß am Anfang des sechsten Jahrzehnts ihrer Existenz für alle Herausforderungen und Gelegenheiten gewappnet sein“, heißt es in dem neuen Strategiepapier. In einer unsicheren Welt bleibe die Notwendigkeit einer effektiven Verteidigung erhalten, lautet die Schlußfolgerung. Noch nie wurde der Begriff „Verteidigung“ so flexibel, so vage gedeutet. Das Wort „Verteidigung“ verschleiert, daß die neue Nato-Doktrin weltweiten Interventionen Tür und Tor öffnet. Wenn in Zukunft nicht mehr nur im Namen des Pentagons, sondern der Nato bombardiert wird, dann wird das nicht unbeantwortet bleiben. Nicht nur die US-Botschaft, auch die Vertretungen der 18 anderen Nato-Staaten werden Ziel des Volkszorns werden. Und die Hoffnungen auf eine differenzierte europäische Außenpolitik als Gegengewicht zur US-Hau-drauf-Politik werden enttäuscht.

Mit der neuen Nato-Doktrin geht es um viel mehr als das Kosovo und die Frage, ob wir individuell für oder gegen einen militärischen Einsatz in Jugoslawien sind. Vielleicht braucht es den Blick von außerhalb Europas, etwa von seiner instabilen Peripherie aus, um das deutlich zu erkennen.

Der Kosovo-Krieg wird irgendwann einmal zu Ende gehen. Die neue Nato-Doktrin aber wird weiterhin in Kraft bleiben. Und das bedeutet, daß es globale Einsätze der Nato – und auch der Bundeswehr – geben wird. Karim El-Gawhary

Die Nato will sich als Richter über internationales Recht hinwegsetzenDie neue Nato-Doktrin erweitert den Begriff Verteidigung bis zur Unkenntlichkeit