„Verschwindet nach Albanien“

Über 100.000 Einwohner von Prizren, einer der schönsten Städte des Balkans, wurden in den vergangenen Tagen zur Flucht gezwungen. Bei den Vertreibungen kam es zu Massakern und Vergewaltigungen, bestätigen internationale Beobachter  ■ Aus Kukäs Erich Rathfelder

Erleichterung, nicht Freude, spiegelt sich in den Gesichtern der Menschen, die endlich den Grenzübergang Molina bei Kukäs nach Albanien überschritten haben. Sie sind jetzt in Sicherheit.

„Vor allem die letzten Stunden waren fürchterlich“, sagt eine junge Frau, die ihre gebrechliche Mutter und vier Kinder über die Grenze führt. Sie sind zu Fuß gekommen, denn das Auto wurde ihnen von serbischen Freischärlern abgenommen. „14mal sind wir auf dem Weg von Prizren zur Grenze von bewaffneten Serben angehalten worden – dabei sind es nur 20 Kilometer – auch von Polizei und Armeeangehörigen, alle wollten Geld“, schildert Fatmira P., die es ebenfalls mit ihren Eltern und den drei Kleinkindern über die Grenze geschafft hat.

Hilfsorganisationen bieten Lebensmittel und Decken an. Die Kinder bekommen Milch und Bananen, Äpfel oder Brot. „Seit Tagen haben wir nichts mehr gegessen“, sagt eine Frau, die sich ein Sandwich zubereitet, nachdem die Kinder versorgt sind. Die serbischen Ladeninhaber hätten schon seit Wochen keine Lebensmittel mehr an Albaner verkauft oder astronomisch hohe Preise verlangt. „Das Kilo Weißbrot kostete zuletzt 5 Mark“, empört sie sich.

Am Morgen des 1. Mai seien die Soldaten, Polizisten und bewaffneten Freischärler in ihr Wohnviertel in Prizren eingedrungen. Die Menschen wurden mit Megaphonen aufgefordert, sofort die Häuser und Wohnungen zu verlassen und sich zur Grenzstation nach Albanien zu begeben, berichten die Stadtbewohner. Die Serben hätten nach Geld gesucht, hätten den Frauen den Schmuck abgenommen. Dann hätten sie die kosovo-albanische Bevölkerung mit den Worten „Verschwindet doch endlich nach Albanien“ losgeschickt.

Auf dem Weg zur Grenze wurden sie noch mehrmals angehalten und nach Geld und Wertsachen durchsucht. Dann wurden die Ausweise konfisziert und die Nummernschilder ihrer Autos abmontiert.

Die über 100.000 Einwohner zählende Stadt Prizren ist mit ihrer Silhouette aus orthodoxen und katholischen Kirchen, den Moscheen, den mit Balkonen und Erkern geschmückten türkischen Gebäuden, den hochragenden und schneebedeckten Bergen sicher eine der schönsten Städte des Balkans. Sie wird derzeit systematisch entvölkert: Bis Freitag waren 13.000 Flüchtlinge vertrieben, am Samstag drängten gar rund 1.000 Menschen pro Stunde über die Grenze nach Albanien. Am Sonntag erreichten weitere 3.100 Flüchtlinge den Kontrollpunkt.

In der Stadt selbst gingen die serbischen Einheiten noch relativ gemäßigt vor. Die aus den umliegenden Dörfern Vertriebenen jedoch klagen über brutale Übergriffe. Vor allem junge Männer sind in Gefahr. „Wir schafften es, uns mit Frauenkleidern in den Zug der Fliehenden einzugliedern“, erzählen zwei junge Männer, die schließlich über die Grenze kamen.

Die Dorfbewohner kommen mit Traktoren. Bis zu 20 Menschen drängen sich auf den mit Kleiderbündeln und Koffern beladenen Anhängern. „Mein Vater hat über 30 Jahre in Deutschland gearbeitet,“ sagt Baskim Meksani, „wir hatten drei Häuser gebaut, hatten einen Mercedes besessen. Jetzt sind die Häuser abgebrannt.“ Nach sechs Tagen Irrfahrt hat er selbst, seine Ehefrau und die Frauen seiner Brüder jetzt den Grenzübertritt geschafft. „Nur den Traktor haben sie uns gelassen.“ Die Brüder im wehrfähigen Alter seien schon vor der Polizeiaktion in die Wälder geflohen. „Vielleicht gehen sie zur UÇK.“

Ray Wilkenson, Sprecher des Flüchtlingshilfswerkes UNHCR in Kukäs, befürchtet, daß diese Männer zur Zwangsarbeit herangezogen werden. „Es gibt Hinweise darauf, daß sie Schützengräben ausheben müssen, vielleicht sogar Gräber.“ Auch Fred Abrahams, Mitglied der Menschenrechtsorganisation Helsinki Watch ist davon überzeugt. „Wir haben von vielen Vertriebenen den Hinweis bekommen, daß diese Leute Zwangsarbeit leisten müssen. Es gibt noch Schlimmeres, es gibt regelrechte Massaker.“ So sei es zu Beginn der vergangenen Woche in der Region der weiter nördlich liegenden Stadt Djakova zu einem oder mehreren Massakern gekommen. Mitarbeiter von UNHCR, Médecins du Monde und Human Rights Watch, die an der Grenzübergangsstelle warten, befragen die Ankömmlinge sofort an Ort und Stelle.

Der aus New York stammende Menschenrechtler Fred Abrahams erklärt nach Befragung von Dutzenden von Zeugen durch diese Organisationen, es müsse jetzt als erwiesen gelten, daß in dem Dorf Meja bei Djakova am 27. April zwischen hundert und 300 Männer exekutiert worden seien. Am Morgen jenes Tages hätten serbische Spezialpolizei, Paramilitärs und Einheiten der jugoslawischen Armee zehn Dörfer westlich der Stadt umschlossen. Nach und nach wurden die Einwohner über die Straße Richtung Djakova vertrieben. Viele der Häuser in den Dörfern wurden niedergebrannt.

Die Deportierten wurden alle in Richtung Meja getrieben, einem kleinen Dorf in der Nähe der Stadt. Dort warteten Polizisten und Soldaten auf den Zug der Vertriebenen. Sie zwangen Hunderte von albanischen Männern, aus dem Zug herauszutreten. Frauen, Kinder und alte Leute durften weiterfahren. Später vorbeikommende Zeugen sahen, wie Hunderte von Männern von Soldaten umringt waren, die Waffen auf sie gerichtet hatten.

Andere, die dann einige Stunden später am Nachmittag die Stelle passieren mußten, sahen von der Straße aus einen großen Berg Leichen, der eine Höhe von eineinhalb Metern erreicht habe.

Außerdem lägen jetzt auch Beweise für Vergewaltigungen vor, sagen Menschenrechtsbeobachter. In dem Dorf Dragacin seien 200 bis 300 Frauen im April für drei Tage von serbischen Einheiten festgehalten worden. Während dieser Zeit seien Frauen von einzelnen Soldaten wie auch von Gruppen von Soldaten vergewaltigt worden. Das Schweigen über diese Verbrechen gegen Frauen sei jetzt erstmals durchbrochen worden: Sowohl Helsinki Watch wie auch ihre eigene Organisation könnten jetzt Beweise vorlegen, erklärt Fatmira Kamhe von Médecins du Monde. Zwei der Frauen hätten erzählt, wie sie aus dem Kreis der anderen Flüchtlinge geholt wurden, wie sie in andere Wohnungen gebracht wurden, was dann mit ihnen geschah. Journalisten und anderen Organisationen sei ähnliches berichtet worden. Da die Gewalt gegen Frauen in den albanischen Familien tabuisiert werde, sei es aber sehr schwer, das Ausmaß solcher Verbrechen einzuschätzen.

Der Zug der Deportierten setzt sich nach der Grenze auf der albanischen Seite fort. Traktor an Traktor, Auto an Auto ziehen sie die 15 Kilometer hinunter nach Kukäs. Doch die Flüchtlingslager dort sind schon überfüllt. So campieren die Durchzügler zunächst in den Parks und entlang der Uferbänke eines Baches, der den Ort durchschneidet.