Herauftragen, hinunterfallen

Der moderne Sisyphos rollt Kieselsteine: Peter Bichsel erzählt von der Unmöglichkeit, eine Biographie zu haben, und wie trotzdem ein Leben daraus wird  ■   Von Sonja Funke

Dr. Cherubin Hammer trägt täglich einen Stein auf einen Berg, 365 Steine im Jahr, ein ganzes Leben lang. Läßt sich so eine Biographie erzwingen? Läßt sich etwas erzählen über ein Leben, von dem es ansonsten scheinbar nur wenig zu berichten gibt?

Peter Bichsels neuer Roman „Cherubin Hammer und Cherubin Hammer“ ist ein biographisches Experiment. Zwei Männer – die Geschichte des einen wird im Text, die des anderen in assoziativen Fußnoten erzählt – tragen denselben Namen: Cherubin Hammer. Der eine hat seinen Namen beim anderen bloß geliehen, doch scheint es sich in beiden Fällen um ein Pseudonym zu handeln. Cherub, Pluralform Cherubin: Das ist der Lichtengel aus dem Alten Testament. Zwei Cherubin finden sich im Tempel von Jerusalem. Zwei Protagonisten wählte Bichsel für seinen Roman, die – engelsgleich und allen Mühen zum Trotz – kaum Spuren in der Welt hinterlassen.

„Die Geschichte von der Geschichte, die man nicht schreiben kann, ist die Geschichte vom Leben, das man nicht leben kann“, sagte Bichsel 1982 in seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung. Beides ist für ihn, den vielgepriesenen „Meister der kurzen Form“, Ausdruck der Sprechunfähigkeit in unserer Welt. Sein erster Roman „Die Jahreszeiten“ (1967), für den er den Literaturpreis der Gruppe 47 erhielt, macht ebenso wie die vorher und nachher erschienenen Geschichten Bichsels durchgängige Thematik deutlich: die Unzulänglichkeiten einer Gesellschaft, die den Entwurf individueller Biographien unmöglich macht.

Auch in seinem neuen Buch verfährt Bichsel nach diesem Muster. Dabei stellt er diesmal zwei Leben gegenüber, die von Grund auf unterschiedlich, im Resultat aber ähnlich sind: Der eine, der Möchtegern-Dichter und Intellektuelle Cherubin Hammer, der nur für seinen biographischen Nachruhm lebt und sich davon weder durch Familie noch durch ungeplante Vorfälle abbringen läßt, scheitert schon im Leben und wird erst am Ende und beinahe unbemerkt er selbst. „Das Leben dauert zu lange“, schreibt er in sein sonst leeres Tagebuch. Der andere, der Handwerker und Lebemann Cherubin Hammer, scheint sein Leben fest im Griff zu haben, doch erweist es sich als vollkommen anekdotisch, als Ansammlung von Stammtischgeschichten, mehr erfunden als erlebt.

„Die Geschichte von der Geschichte, die man nicht schreiben kann, ist die Geschichte vom Leben, das man nicht leben kann“: Erzählen ist für Bichsel eine Möglichkeit, die Wirklichkeit zu verpassen. Und so läßt er seinen gebildeten Helden ständig erzählen und fast nie sprechen, denn: „In einer Welt des Schweigens bleiben die Sätze stehen.“ Der eine Cherubin spricht nicht, sondern deklamiert mit altgriechischen Versen von Homer oder mit Stifters Witiko gegen seine Mitmenschen an. Der andere Cherubin spricht nicht mit anderen, sondern prahlt, schneidet auf, faselt.

Dr. Hammer trägt im Dienst seiner Biographie jeden Tag einen Kieselstein auf den Berg, 365mal im Jahr, in Schaltjahren einmal mehr, eine Handlung, die für die Nachwelt zum Hauptthema seiner Biographie werden soll. Doch ist diese Manie überhaupt wichtig für die Geschichte? Bichsel gibt nur folgende Auskunft: „Sollten Sie interessiert daran sein, warum er diese Steine auf den Berg trug, dann können Sie die Lektüre hier getrost abbrechen.“ Ohnehin scheint das „Warum“ des Steine-Tragens nur vordergründig der biographischen Unverwechselbarkeit zu dienen, denn es wird später mühelos ersetzt durch eine neue Tätigkeit: Bichsels Held spielt Gameboy und beschäftigt sich nun in „Tetris“ damit, virtuelle Steine herunterfallen zu lassen und Reihe für Reihe zu sortieren und zu ordnen.

Man mag in diesem Steineschlepper und Tetris-Spieler eine modernisierte Version des Camus'schen Sisyphos erkennen und das Buch als Variante des Mythos über die Absurdität des Daseins lesen. Daneben lassen sich auch Anspielungen an Adalbert Stifter entdecken. Nicht nur die ausgeprägte Redundanz der Handlung und die strenge Symmetrie des Textes erinnern an den Österreicher, und Hammers Sohn heißt gewiß nicht zufällig Adalbert. Auch Stifters Protagonisten unterwerfen sich bisweilen scheinbar sinnlosen, aber regelmäßig und häufig wiederholten Handlungen, die sich schließlich als Ersatzhandlungen erweisen. So wie Cherubin Hammer, der etwas tut, um anderes nicht zu tun. Indem er sich die Biographie jenes Dichters aufzubauen versucht, „der täglich einen Kiesel auf den Berg trug“, zerstört er seine eigene: die des Menschen Cherubin Hammer, der sein Leben oder gar seine Exzesse lebt. Und steht am Ende ohne Biographie da. Peter Bichsel hat trotzdem eine, zwei Geschichten daraus gemacht.

Peter Bichsel: „Cherubin Hammer und Cherubin Hammer“. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1999, 112 Seiten, 34 DM