■ Die Ostdeutschen sind, anders als die Westler, mehrheitlich gegen den Krieg. Ein Blick in die Mentalitätsgeschichte Ost zeigt, warum
: Die Ostdeutschen und der Krieg

Umfragen zufolge unterstützt eine Mehrheit der Westdeutschen den Nato-Krieg gegen Jugoslawien, wogegen eine Mehrheit der Ostdeutschen diesen Krieg ablehnt. Dieser Befund verlangt nach Erklärungen.Um so mehr, als ein hartnäckiges Vorurteil gerade unter den Ostdeutschen eine Vorliebe für das Soldatische vermutet, für Zucht, Ordnung und Disziplin.

Jahrzehntelang auf widerspruchslosen Gehorsam trainiert, von frühesten Kindesbeinen an in alle möglichen Formen der Zwangskollektivierung eingespannt, hätten sie diese Zumutungen schließlich verinnerlicht und einen heftigen Widerwillen gegen Nonkonformisten, Einzelgänger und Minderheiten entwickelt. Bis zur Wende zur Latenz verurteilt, habe sich ihr staatstragendes Duckmäusertum nach 1989 sogleich in den Ruinen des rasch zerfallenden Ordnungsgefüges breitgemacht, Ausschau nach Sündenböcken für die eigene Anpassungsleistung gesucht und in Ausländern, Außenseitern oder sonstwie Auffälligen auch gefunden.

Erst kürzlich wärmte der westdeutsche Kriminologe Pfeiffer diese triste Legende auf, als er eine unmittelbare Verbindung vom Disziplinarregime der Kinderkrippen und Kindergärten zur überproportionalen Anfälligkeit der ostdeutschen Nachwendejugend für rechtsextreme Parolen zog. So kann man ein Thema benennen und seine Behandlung im Morast der eigenen Vorurteile ersticken.

Wären die Ostdeutschen die frustrierten Disziplinkrüppel, zu denen der Herr Konfusionsrat sie ernennt, immer auf dem Sprung zur gewaltsamen Abreaktion ihrer Untertanenkomplexe, warum stehen sie dann jetzt nicht in der ersten Reihe der Kriegsbefürworter? Was ist der Schlag gegen einen Ausländer, verglichen mit der Genugtuung, die es bereitet, ein wehrloses Land tagtäglich und ohne großes Risiko zu bombardieren? Was hemmt ihre Angriffslust?

Ihre verstohlene Sympathie zu Diktatur und Kommunismus, meinte jüngst der Schauspieler Ulrich Mühe in einer Talkshow. Weil die Ostdeutschen noch immer nicht in der Demokratie, im Westen, angekommen seien, ihr altes Erbe noch mit sich herumtrügen, könnten sie sich auch für die notwendige Verteidigung der westlichen Wertegemeinschaft nicht recht erwärmen.

„Dichter müssen dumm sein“, überschrieb einst Heiner Müller einen provokanten Aufsatz gegen das epigonale Brecht-Theater. Schauspieler auch, möchte man hinzufügen, das Urteil aber auf jene beschränken, die nach 1989 ein Dogma gegen das andere eingetauscht haben und sich nun als Kreuzritter der freiheitlich-demokratischen Grundordnung inszenieren.

Tatsächlich lassen sich für die kriegerische Skepsis der Ostdeutschen drei Gründe „ins Feld“ führen.

Erstens: Im Osten Deutschlands lebte man bis zuletzt näher am Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen als im Westen. Konfiskationen von Eigentum und persönlicher Habe, die Demontage ganzer Industrieanlagen samt Abkommandierung von Fachleuten und Experten in die Sowjetunion sowie die weitgehende Entmachtung der alten Macht- und Funktionseliten schärften den Ostdeutschen das Bewußtsein von Kriegsschuld und Kriegsverbrechen nachhaltig ein. Sodann rechtfertigte sich jeder Eingriff in das gesellschaftliche Leben, von den ersten Enteignungen über den Mauerbau bis hin zur permanenten Unterordnung der DDR-Ökonomie unter sowjetische Prioritäten politisch durch den Verweis auf die verhängnisvolle Nazizeit. Dem ideologischen Diskurs gesellte sich der stumme der Steine und Landschaften hinzu.

Der Wiederaufbau der Wirtschaft, von Städten und Infrastrukturen vollzog sich schleppend, die Schäden der Bombennächte und Straßenkämpfe schimmerten auch in den achtziger Jahren noch überall durch, das Schienen-, vor allem das Autobahnnetz selbst der späten DDR war im wesentlichen mit dem der Hitlerzeit identisch.

Auf Schritt und Tritt, beredt oder schweigend, begegneten die Ostdeutschen dem Krieg und zogen daraus die einzig mögliche Schlußfolgerung: Nie wieder! Diese Lektion wirkt bis heute nach.

Zweitens: Die Ostdeutschen haben einige Erfahrung mit der militärischen „Lösung“ politischer Konflikte, im eigenen Land und in den Nachbarländern. Niemals wurde wirklich Abhilfe geschaffen, im Gegenteil. Die russischen Panzer erlösten den ostdeutschen Staat 1953 ebensowenig aus seinen Legitimationsnöten wie den ungarischen 1956. Der Mauerbau von 1961 erledigte die deutsche Frage nicht, sondern vertagte sie nur. Der Einmarsch der Warschauer Vertragsstaaten in die CSSR 1968 sorgte kurzfristig für Ruhe, stürzte jedoch das ganze System in seine finale Krise. Das Ergebnis all dieser gewaltsamen Eingriffe waren immer nur offene Rechnungen.

Gegen diese Langzeiterfahrung vermag das naheliegende Argument, Panzer könnten doch auch einmal für die Menschenrechte rollen, Bomben für die Freiheit fallen, nur wenig auszurichten. Die lebendige Erinnerung, daß kriegerische Problemlösungen nur zur Problemverschärfung führen, ist nicht so einfach auszulöschen. Am allerwenigsten durch die Versicherung, daß es zum Krieg keine Alternative gibt. Die Gebrochenheit der ostdeutschen Erfahrung, ihr Vertrautsein mit Umschwüngen und jähen Wenden, entlarvt diese Formel als eine Mischung aus Lüge und Dummheit.

Es gibt immer eine Alternative zu dem, was gerade passiert.

Erst in dritter Hinsicht kommt das prekäre Verhältnis der Ostdeutschen zum deutschen Einheitsstaat ins Spiel. Ihre diesbezüglichen Erfahrungen sind widersprüchlich, teils Erfahrungen der Einbeziehung, teils aber auch Erfahrungen von Degradierung und Ausschluß, von praktischer und geistiger Mißachtung. Am schwersten wiegt dabei nicht die Mißachtung dieses oder jenes materiellen Interesses, sondern die Mißachtung ihrer Erfahrung selbst.

„Die DDR“, schrieb noch dieser Tage der Politologe Kurt Sontheimer, „hatte keine Mitgift. Die Lasten der Vergangenheit, mit denen man drüben fertig werden muß ..., sind Passiva, keine Aktiva; sie sind im wesentlichen Belastungen, die nun der Beseitigung harren, nicht aber Positiva, die sich in einer gesamtdeutschen Bilanz günstig auswirken könnten.“

Täuscht man sich, wenn man diese Äußerung aus dem Jahr 1999 mit der westdeutschen Mehrheitsmeinung über die Ostdeutschen gleichsetzt? Täuscht man sich nicht, bedarf es dann noch eines Wortes, um zu erklären, warum die Ostdeutschen dem neuen Gemeinwesen mit äußerster Reserve begegnen, im Frieden wie im Krieg? Wolfgang Engler «/B»

Müßten die autoritätsfixierten Ostler nicht eigentlich für diesen Krieg sein?

1953, 1956, 1968 – Ostler wissen, daß militärische Lösungen immer schiefgingen