Stillstand in Frankreich

Seit einer Woche legen Eisenbahner den Schienenverkehr lahm. Sie fordern mehr Arbeitsplätze  ■   Aus Paris Dorothea Hahn

„Wenn sie keine zusätzlichen neuen Arbeitsplätze bringt, interessiert mich die 35-Stunden-Woche nicht“, sagt ein Zugführer am Bahnhof Paris-Nord. Seine Kollegen nicken zustimmend. „Statt Verbesserungen bringt uns das nur Einbußen bei den Prämien und längere unbezahlte Wartezeiten zwischen zwei Schichten“, erklären sie.

Gestern, am achten Tag des Streiks, den ursprünglich die winzige autonome Lokfahrergewerkschaft FFGAAC (3,18 Prozent bei den letzten Betriebsratswahlen bei der nationalen französischen Bahngesellschaft SNCF im März 1998) ausgerufen hatte und den zunächst nur die kleine linke Gewerkschaft SUD-Rail unterstützte, wuchs die Bewegung noch weiter an. Bei Abstimmungen an Bahnhöfen und Betriebsstätten im ganzen Land stimmten auch zahlreiche Mitglieder von nicht streikenden Gewerkschaften für eine Fortsetzung des Arbeitskampfes. Rund die Hälfte des Langstreckenverkehrs in Frankreich und ein beträchtlicher Teil des Pariser Vorortverkehrs lagen gestern lahm. Angesichts des Drucks von der Basis blieb den Spitzen der großen Gewerkschaften im Eisenbahnbereich nichts anderes übrig, als sich ihrerseits anzuschließen. Nach langem Zögern ruft jetzt auch die Eisenbahnergewerkschaft CGT (45,81 Prozent bei den letzten Wahlen) zu einer 36stündigen Arbeitsniederlegung für kommenden Montag auf. Die CFDT (19,6 Prozent) will abwarten, ob SNCF-Chef Louis Gallois nicht doch Zugeständnisse macht. Die FO (5,61 Prozent) veröffentlichte bereits am Dienstag einen generellen Sreikaufruf.

Anlaß für den Streik ist ein Plan zur Einführung der 35-Stunden-Woche, den SNCF-Chef Gallois vorgelegt hat. Die großen Gewerkschaften fanden den Plan ursprünglich verhandlungsfähig. Als herauskam, daß mit dieser 35-Stunden-Woche bloß 4.000 bis maximal 6.000 zusätzliche Arbeitsplätze in dem riesigen Unternehmen SNCF (174.000 Beschäftigte) geschaffen würden, gingen die ersten Eisenbahner auf die Barrikaden. SUD-Rail verlangte 12.500 neue Arbeitsplätze – zusätzlich zu den routinemäßigen Neueinstellungen wegen Verrentungen etc. Die CGT verlangte, daß nicht nur wie ursprünglich geplant im Dienstleistungsbereich, sondern auch in den Werkstätten neue Jobs geschaffen werden.

SNCF-Chef Gallois, der den Streik als einen „Rückschritt im sozialen Dialog“ bezeichnet, wartete trotz seiner angeblichen Dialogbereitschaft sieben lange Tage ab, bevor er am Dienstag erklärte, man könne jetzt doch „nachverhandeln“. Derweil war am achten Tag des Streiks gestern das Chaos auf den meisten Bahnhöfen des Landes komplett. Zahlreiche Pendler mußten wieder einmal im Morgengrauen aufstehen und kamen erst spät nachts wieder zu Hause an, da der Zugverkehr so reduziert war. Dennoch hielten sich die Proteste von Zugbenutzern in Grenzen. Wie üblich verstehen viele Franzosen Streiks der Eisenbahner als „Stellvertreterstreiks“. Dahinter steht die bittere Erfahrung, daß wenn selbst die gewerkschaftlich hoch organisierten und nur schwer kündbaren Eisenbahner ihre sozialen Vorteile nicht mehr verteidigen können, es für die Beschäftigten im Privatsektor erst recht zappenduster aussieht.