Der Tingeltangelmeister

Ralph Siegel hat während der letzten 25 Jahre fast jedes Jahr beim Grand Prix Eurovision mitgemacht. Er müßte in dieser Zeit ein abgeklärter Profi geworden sein. Einer, der Niederlagen routiniert wegsteckt. Doch der Münchner, in diesem Jahr mit der turkodeutschen Gruppe „Sürpriz“ im Schlagerwettbewerb vertreten, ist von solcher Routine fern. Er fiebert dem Ereignis entgegen. Er weiß: Alles außer einem Sieg tut weh  ■ Von Jan Feddersen

Noch voriges Jahr hat er öffentlich beteuert, vorläufig pausieren zu wollen. Sich nicht mehr dem Streß und der Pein auszusetzen, einen Titel zum deutschen Vorentscheid des Grand Prix Eurovision erarbeitet, ja, geschöpft zu haben – um dann vom Publikum mit Desinteresse gestraft zu werden. 1998 muß also ein schweres Jahr für Ralph Siegel gewesen sein. Wenige Stunden, noch Minuten vor der Show in der Bremer Stadthalle, die damals schon ausschließlich auf Guildo Horn zugeschnitten schien, empörte sich der Münchner Komponist lautstark und verzweifelt vor der Presse über die gemeine Manipulation, der die Sendung ausgesetzt sei. Alle redeten nur vom Meister, also von Guildo Horn, und nicht von ihm, Ralph Siegel, dem eigentlichen Meister.

Dabei hatte Siegel selbst all die Jahre zuvor, die er im Dienste der europäischen Schlagerkultur zu stehen glaubt, nichts unversucht gelassen, die Medien, vor allem die stimmungsbildende Bild hinter sich zu bringen. Und lief für ihn nicht alles bestens, als der Bayerische Rundfunk noch die Sendung innehatte und nicht wie seit drei Jahren der NDR, der in Bayern gerne zum sozialdemokratischen TV-Kartell gezählt wird? Siegel war fast jede Verschwörungstheorie recht, um seine Niederlage zu erklären.

Immerhin hatte er drei Songs im Wettbewerb – und nicht einer von ihnen landete auch nur auf den ersten drei Plätzen. Lag es daran, daß sie allesamt wie aus der Retorte klangen, gefallsüchtig und deshalb zu unauffällig? Sich anhörten wie herzlos kalkuliert und deshalb langweilig und zudem sentimental? Nein, Siegel würde diese Fragen schon nicht verstehen: Was soll schlecht sein am Komponistenhandwerk des Ralph Siegel, der sich unverstanden fühlt und undankbar behandelt, weil die Nation ihn, den Vater von „Ein bißchen Frieden“, „Johnny Blue“ und „Dschingis Khan“, nicht ehrt?

Im übrigen meint er noch heute, seine von ihm selbst kreierte Truppe Ballhouse hätte mit dem Titel „Can Can“ statt Guildo Horn international besser abgeschnitten. Siegel – ein schlechter Verlierer? Weiß er nicht, daß im Popgeschäft nur wenig zu manipulieren ist, weil das Publikum letztlich doch goutiert, was es will? Warum hat er nicht begriffen, daß Guildo Horn als Ironiker Erfolg hatte, weil der Zeitgeist des vorrotgrünen Jahres solche Sänger besonders lieb hatte? Hat Siegel nicht auch stets davon profitiert, wenn seine Tonerzeugnisse genau in eine Stimmung paßten? 1982 Nicoles „Ein bißchen Frieden“ im Jahr der Friedensdemos; zwölf Monate zuvor Lena Valaitis' „Johnny Blue“ im Jahr der Behinderten? Siegel darf man nicht mit logischen Schlüssen kommen, vor allem dann nicht, wenn sie Siegels Leben betreffen. Der macht alles aus dem Bauch raus, sagen Freunde. Der wird nie ein ganzer Profi, sagen andere, denen das Tonsetzerhandwerk ein Geschäft ist und sonst nichts. Ralph Siegel ist ein Triebtäter, besser: ein Getriebener. Insofern war es auch nicht verwunderlich, daß er sich doch noch hinsetzte und mit einem Beitrag zum diesjährigen Grand- Prix-Vorentscheid aus den Studios kam. Heraus kam das Lied „Reise nach Jerusalem – Kudüs'e Seyahat“.

Und das kam Freunden zufolge so zustande: Während der letzten beiden Jahre hatte es aus Deutschland beim internationalen Wettbewerb stets die höchste Punktzahl für die Türkei gegeben. Das seien Anrufer aus Neukölln, Kreuzberg und anderen deutschen Vierteln gewesen, wo viele türkischstämmige Einwanderer leben, hieß es später. Also Menschen, die über Handys verfügen und den Grand Prix als landsmannschaftlich-heimatverbundenes Spiel nutzten. Und so arrangierte Siegel Ende vorigen Jahres, die wütenden Tränen über die Schmach von Bremen waren eben erst getrocknet, in seinen Münchner Studios einen Song, der sich türkisch anhört und von einer turkodeutschen Gruppe interpretiert wird, auf daß die Menschen in den Einwandererbezirken seinem Lied telefonisch zum Sieg verhelfen. Das Kalkül ging am Ende nicht ganz auf, weil nämlich die Sängerin Corinna May – blind und blond – mit einem kinderliedartigen Song einfach öfter gewählt wurde als Siegels Truppe „Sürpriz“.

Doch es gibt Regeln, die besagen, daß ein Grand-Prix-Lied nicht schon einmal öffentlich gesungen worden sein darf – und das war bei der eigentlichen Gewinnerin in der Tat der Fall. So ward sie spektakulär disqualifiziert – und Siegel & Co. ergatterten schließlich doch noch die Tickets zum Grand Prix Eurovision am 29. Mai in Jerusalem. Doch statt in München dafür Gratulationen zu erhalten, vor allem in jenen Kreisen, in denen Siegel sich aufhält, erntete er mißbilligende Kritik.

Christsoziale Würdenträger, denen Siegel ja nun bei Gott nicht fernsteht, echauffierten sich über die unerwünschte Botschaft für den Doppelpaß. Wie konnte Ralph Siegel nur ein Lied komponieren, in dem es – der Text stammt von Siegels Busenfreund Bernd Meinunger – heißt: „Dostca yasamak varken, Neden bu kavgalar“, also „Warum diese Streitereien, wenn man als Freunde zusammenleben kann“? Alternativen Kreisen ist ein solcher Satz als Kritik an der völkischen Staatsangehörigenpolitik der Union vielleicht etwas zu simpel gestrickt, aber selbst diese Harmlosigkeit weckte den Zorn der CSU-Schickeria in Bayern.

Aber Siegel, wie gesagt, fast ganz Bauchmensch, verstand den insgeheimen Ratschlag nicht, sich vom Song zu distanzieren. Im Gegenteil. Wie eine werdende Mutter reagierte er. Wie eine Schwangere, der der Gynäkologe im sechsten Monat zur Abtreibung rät, weil das Kind mit schweren Behinderungen zur Welt kommen werde – sie aber darauf beharrt, es auszutragen, weil in ihr etwas heranwächst, dem ihre ganze Liebe gehört, vorläufig jedenfalls. Kurzum: Auf keinen Fall werde er sich von der „Reise nach Jerusalem“ lossagen, nicht davon lassen, den grünen Bundestagsabgeordneten Cem Özdemir für klug zu halten und die sechs Mitglieder von „Sürpriz“ für seine Freunde.

Was die CSU-Spezln des Komponisten nicht wußten, ist wohl, daß Siegel wirklich nichts gegen Ausländer hat. Er war ein Kind, das die amerikanischen Besatzer nach dem Zweiten Weltkrieg als Befreier wahrgenommen hat und deren Musik, den Rock'n'Roll, vor allem die von Elvis Presley, als Manna aufgesogen hat. Ralph Siegel steht kulturell dem american way of life näher als dem ordobajuwarischen Weg der kalkulierten Ausgrenzung von Minderheiten. Für Siegel, in den sechziger Jahren ein fleißiges Mitglied der Münchner Bohème der Schwabinger Krawalltage, sind im Grunde alle Menschen Freunde, auch wenn sie es noch nicht voneinander wissen. Dünkelhaftigkeit ist dementsprechend seine Sache nicht, und auf Nachfrage beansprucht er ganz selbstverständlich noch heute als Mittfünfziger, eigentlich auch ein Achtundsechziger zu sein.

Und so sei auch seine Liebe zum Grand Prix Eurovision zu verstehen. Wo sonst hört das einst tief zerstrittene Europa friedlich einen Abend lang Liedern zu, die in Sprachen gesungen werden, welche es sonst nicht zur Kenntnis nimmt? Zudem ist der Wettbewerb für Siegel die Bühne schlechthin, seine Hymnen zu präsentieren – meist eher sentimental als berührend, immer gut gemeint und meist nicht gut genug: „Laß die Sonne in Dein Herz“ hat er komponiert, auch „Tingel Tangel Mann“ oder „Frei zu leben“ – die Reihe von Songs, die keinen Weg in die Herzen der Menschen fanden, ist lang.

Aber das ficht einen wie Siegel nicht an, Selbstzweifel hat er nur sporadisch. Dafür ist er schnell dabei, anderen die Schuld zu geben. 1992, beim Grand Prix Eurovision im schwedischen Malmö, war er dabei mit der Gruppe „Wind“, einer Band, die schon damals nicht eben zur erweiterten Avantgarde der deutschen Popkultur gehörte. Deren Lied „Träume sind für alle da“, ein besonders zynisches Stück, in dem es vor Not und Kummer nur so raunt, eines, in dem süßlich sogar Arbeitslose besungen werden, für die einst Träume auch wahr würden, dieses Lied scheiterte grandios.

Damals versank Siegel keineswegs in den Fauteuils seines Malmöer Hotels und fragte sich, ob er nicht höchstpersönlich mit dafür verantwortlich sei, daß niemand aus der deutschen Popbranche mehr Lust hat, den Grand Prix Eurovision zu seiner Sache zu machen, weil der Münchner Komponistenkollege den Wettbewerb seit fast zwei Jahrzehnten mit gerontokratisch- infantilem Appeal kontaminiert hat. Nein, Siegel klagte hörbar angeschickert über die Unfähigkeit der Gruppe, der er ein wunderbares Lied geschrieben habe und die nicht imstande sei, es adäquat zu performen. Hatte er sich nicht Tag und Nacht um sie gekümmert, die (in der Tat albern- harlekinesken) Bühnenklamotten ausgesucht, die (unfreiwillig komödiantischen) Gesten einstudiert und sie allesamt früh ins Bett geschickt, auf daß sie bei Stimme seien am Abend des Wettbewerbs? Vergebens, ganz hinten landeten sie. Plötzlich sah man Siegels zweites Gesicht: das eines gekränkten Kindes, welches keine Lust hat, mit den anderen zu spielen, weil sie sowieso zu blöde sind. Auch damals schwor er sich, nie wieder mitzumachen beim Grand Prix, und die Branche hoffte, daß er nicht wortbrüchig werde.

Er brach seinen Schwur, das war klar. Was soll er auch machen? Er wünscht sich doch so sehr, noch einmal einen Tag wie den 24. April 1982 zu erleben. Damals ersang ihm Nicole, sein liebster Schützling, mit „Ein bißchen Frieden“ den Sieg beim Grand Prix. Ein junges Mädchen, das sich nur eckig bewegen konnte und dem er deshalb für den Auftritt einen Hocker besorgte, so daß sie wie eine elfenhafte Woodstockjüngerin aussah. Er setzte sich damals selbst auf der Bühne ans Klavier und weinte bei der Siegerehrung hemmungslos. Er hatte der Welt gezeigt, was ihr fehlt, nämlich Frieden, Freundschaft und Fairneß – endlich hatte er es geschafft.

Dieser Tag aller Tage für die Seele Siegels wird mit „Sürpriz“ wohl nicht kommen; die Konkurrenz ist dieses Jahr zu gut, als daß ein allzu wuchtiges Lied wie von „Sürpriz“ die Trophäe davontragen könnte. Siegel glaubt zwar, eine „Millenniumshymne“ komponiert zu haben, aber das ist ein Satz, der ihm selbst vor allem Mut machen soll – und in anderen Ländern in der Rubrik Größenwahn verbucht wird. Sollte die Gruppe, deren Mitglieder besser Bayerisch als Türkisch sprechen, nicht gut abschneiden, steht leider zu erwarten, daß Siegel seinen Frust mit ihnen abmachen wird. Möglich, daß er dann Frieden finden wird mit seinen Freunden von der christsozialen Nomenklatura.

Jan Feddersen, 41, Redakteur im taz.mag. Sein liebster deutscher Grand-Prix-Schlager wurde von Joy Fleming (“Ein Lied kann eine Brücke sein“) gesungen