Der lange Marsch

Dienstag reist Gerhard Schröder nach China. Doch einen „Pekinger Frühling“ wird er nicht erleben. Von dem sprach man vor zehn Jahren, als Tausende von Studenten den Platz des Himmlischen Friedens besetzt hielten, und noch einmal vor einem Jahr, als im Vorfeld des ersten Chinabesuchs von US-Präsident Bill Clinton die Gedanken auch für Intellektuelle frei waren. Ein Jahr später hat sich das Klima verhärtet. Der Bundeskanzler erreicht China inmitten der Asienkrise, die das größte Arbeitslosenheer der Wlt vo sich hertreibt. Zehn Millionen junge Chinesen werden pro Jahr aus den Staatsbetrieben entlassen, seit die Kommunistische Partei ihren Beschluß zur Unternehmensreform faßte. Spannend wird dieser Besuch, wenn Geschichte ins Spiel kommt: zehn Jahre Tiananmen-Massaker am 4. Juni, fünfzig Jahre Volksrepublik am 1. Oktober. Nachdem sein Vorgänger Kohl sich in Peking als Handelsreisender präsentierte, wird Schröder einen politischen Dialog mit den Staatsführern beginnen – und den Deutschen China erklren müssen.Die seit einigen Monaten laufende Kampagne gegen Dissidenten erleichtert die Aufgabe nicht. Ebensowenig der Krieg in Jugoslawien, den die Chinesen als völkerrechtswidrig betrachten. Manchmal hilft Erinnerung: In Schanghai wird der Kanzler die Synagoge besuchen, die aus einer Zeit stammt, in der China für jüdische Deutsche eine der letzten Fluchtstätten vor Hitler war. Damals stand China auf der richtigen Seite der Geschichte, und viele Deutsche wußten es nicht. Schröder mag sehen, ob sichdaran bis heute ewas geändert hat. Ein Blick auf zehn Jahre China  ■ von Georg Blume und Chikako Yamamoto

I.Vor zehn Jahren, im Frühjahr 1989, entschied sich die taz, ihre erste Redaktionsstelle in Asien einzurichten. Man schickte uns damals nach Hongkong, in den Mai der chinesischen Studentenrevolte. In tropischer Hitze zogen wir erst mit Hunderten, schließlich mit einer Million schwitzender Demonstranten durch die Wolkenkratzergassen. Niemand zweifelte daran, an einer historischen Bewegung teilzunehmen: „Demokratie für China“ skandierten die Menschen. Sie trugen Stirnbänder mit Schriftzeichen, die freie Wahlen forderten. Es war wie ein Sturm auf die Bastille – nur ohne Gegner. Von den Türmen der Hongkonger Finanzmacht winkten uns Yuppies zu; der britische Gouverneur sprach freundlich zu den Demonstranten, während die Ereignisse in Peking ihren eigenen Lauf nahmen.

Seit diesen Tagen im Mai ist Hongkong ein Ankerplatz für westliche Werte inmitten einer feindseligen, konfuzianischen Umwelt. Unter einer silbernen Skyline, vor der grüne Fährschiffe kreuzen, treffen sich heute die Anhänger der neoliberalen Chicago School in den Pizzabars des Börsenviertels mit Mitarbeitern der Menschenrechtsorganisationen. Für sie ist die frühere Kronkolonie der „freieste Markt der Welt“, auch für Informationen über Menschenrechtsverletzungen in China.

Die Mitarbeiter von Greenpeace, Human Rights Watch und Merril Lynch haben klare Ziele: Die einen versiert darin, den Umweltschaden der chinesischen Chemieindustrie zu analysieren, die anderen bemüht, chinesische Justizverbrechen aufzudecken, die dritten bereit, jede Börsenintervention der chinesischen Behörden als marktschädigend zu entlarven. Gemeinsam ist ihnen der Haß auf die konfuzianische Tradition, also auf den Vorrang der Gesellschaft vor dem Einzelnen.

Für die westliche Medienöffentlichkeit steht das Leben in der Finanzmetropole für die Kontinuität der chinesischen Demokratiebewegung. Niemand stellt sich heute in Hongkong offen in die Tradition von 1989 – abgesehen von den Dissidenten, die mit ihren Aktivitäten überall im Land hohe Gefängnisstrafen riskieren. Ihnen gebührt deshalb auch ein Großteil unserer Aufmerksamkeit, wenn wir von Hongkong auf China blicken: Jedes Verhör und jede Verhaftung eines KP-Kritikers in der Volksrepublik wird über uns an die Welt übermittelt. Das alles entspricht einem Verständnis vom Recht des Individuums, das für uns im Zweifelsfall höher wiegt als das Völkerrecht.

Und doch beschleicht die taz-Korrespondenten bei jedem Hongkongbesuch seither das Gefühl, zur richtigen Zeit, in einer revolutionären Periode, am falschen Ort zu sein. Eine Revolution ist dort, wo sie keine Gegner kennt, keine. Die Chinesen bei Greenpeace und Merril Lynch ähneln uns so sehr, daß sie auch in Berlin oder New York arbeiten könnten, aber schon weniger in Tokio und erst recht nicht in Peking. Chris Patten, der letzte britische Gouverneur, der die Hongkong Bevölkerung hinter sich brachte, nachdem er kurz vor Übernahme der Stadt durch die Chinesen demokratische Reformen durchgesetzt hatte, wurde dafür im Westen als Kolonialheld gefeiert. Trotzdem kann sich sein Politikertyp bisher weder in Tokio noch in Peking durchsetzen.

Hongkong und in etwas geringerem Maße Taiwan sind aufgrund solcher Erfahrungen untaugliche Projektionsflächen für die bürgerliche Revolution in China. Der amerikanische Sinologe Andrew Nathan, Sympathisant der chinesischen Demokratiebewegung, hat damals klug prophezeit: „China ist eine der großen Weltzivilisationen, aber eine, deren Integration in die moderne internationale Kultur sich lange hinauszögert und dabei besonders schmerzhaft ist. Sie öffnet sich nur langsam und unter den von ihr gesetzten Bedingungen. Eines Tages wird sie eine Version moderner Kultur produzieren, die ihre ganz besonderen Merkmale trägt.“

II.Wir erreichten Peking zum erstenmal am 6. Juni 1989. Im Cathayflug von Hongkong zählten wir noch fünf weitere Passagiere. Sonst wollte niemand ins Kriegsrecht reisen. Zwei Tage zuvor hatten die Panzer der Volksarmee den Tiananmenplatz leergefegt. Der internationale Flughafen von Peking war voller Diplomaten, die in ihre Heimat flüchteten.

Auf den entvölkerten Straßen erlebten wir in der folgenden Woche mittelalterliche Verfolgungsszenen. Schwerbewaffnete Militärfahrzeuge hielten die Verkehrsknotenpunkte besetzt, während die Patrouillen der Volkspolizei durch die traditionellen Hutongviertel mit ihren versteckten Innenhöfen stöberten, immer auf der Suche nach „Konterrevolutionären“.

Vor einer Arbeitersiedlung auf der Straße des Langen Friedens begegnete uns ein einfacher Mann im sauberen Anzug, das weiße Hemd aufgeknöpft bis zur Brust, als hätte er keine Zeit mehr gehabt, sich vollständig anzuziehen. Er trug ein kleines Bündel über dem Rücken und schaute nicht auf. Der Blick vieler Nachbarn folgte dem gebückten Gang des Arbeiters, als vier Volkspolizisten ihn abführten. Hinter ihm weinten Frau und Kind.

Doch nicht nur die Szenen des Terrors sind uns zehn Jahre später noch lebendig. Peking war damals eine arme Dritte-Welt- Stadt; wir wohnten in einem der wenigen Luxushotels und durchradelten breite Straßen, in denen uns kein Auto begegnete. Vom Tiananmenplatz, wo die großen Demonstrationen stattfanden, bis zur Universität, wo sich die Studentenbewegung organisierte, benötigte man mit dem Fahrrad eine gute halbe Stunde. Am Ende des Weges befand man sich auf dem Land. Gegenüber dem Universitätsgarten mit seiner berühmten Tempelpagode züchteten die Bauern Schweine und ernteten Gurken. Zwischen Hongkong und Tokio, wo wir anschließend unsere Zelte aufschlugen, wirkte Peking wie ein Dorf.

Heute verkörpern die dörflichen Reste Pekings so etwas wie den letzten Chic der Hauptstadt. Wer Geld hat, läßt sich in einem der Hutongviertel, die noch nicht unter die Dampfwalze kamen, einen alten Innenhof mit modernen Einrichtungen restaurieren. Rundherum aber hat sich Peking in eine normale Metropole verwandelt, mit ihren Blechlawinen und dem unvermeidlichen Verkehrschaos, mit häßlichen und stilvollen Wolkenkratzern und dem üblichen Freizeitangebot der urbanen Kosumgesellschaft: vom Minigolf bis zum richtigen Golfplatz, vom Rock'n'Rollkonzert bis zur Transvestitenshow.

Die größten Veränderungen hat das Universitätsviertel im Nordwesten erlebt: Wo früher Wiesen und Felder grünten, ist das Silicon Valley der Volksrepublik entstanden. Neben riesigen Computersupermärkten haben sich neue Softwarefirmen niedergelassen. In keiner Seitengasse fehlt das Internetcafé – ausgerüstet mit Teekessel, Computern und einem unternehmungslustigen Geschäftsführer, der tagsüber noch studiert. Und überall wimmelt es von verrosteteten Lastfahrrädern, die wertvolle Hardware in winzige Studentenbuden transportieren.

Am Ort des Aufstands ist der Geist von 1989 verflogen. Die jungen Pekinger Studenten in Jeans und Nike-Schuhen neigen nicht zu revolutionären Gesten. Statt auf der Straße die wiedergewonnene Freiheit auf die Probe zu stellen, suchen sie heute auf dem Info-Highway nach neuen Möglichkeiten. Statt das Schicksal der Nation ins Zentrum eines geisteswissenschaftlichen Studiums zu stellen, streben sie heute an die blitzblanke Business School der Pekinger Universität oder an das gerade neueröffnete Jura-Institut. „Das ist der größte Unterschied: 1989 waren wir alle arm, heute machen wir alle Karriere“, erzählt die 29jährige Chemiedozentin Liu Fang, die vom „Internethouse“ im Keller eines Maultaschenrestaurants mit Kollegen in Hongkong kommuniziert.

Liu, vor zehn Jahren Erstsemesterin, gehört zur alten Protestgeneration: Das Tiananmenmassaker empfindet sie aber als Last der Vergangenheit, über die nicht gesprochen werden darf. Als der ehemalige Studentenführers Wang Dan ins Exil nach Amerika mußte, war sie empört, denn sie kennt ihn seit 1989 persönlich. Dennoch weint Liu den alten Zeiten nicht nach: „Wir waren damals ungeduldig und kannten die Welt nicht. Jetzt wissen wir, daß es neben der Politik auch noch anderes zu tun gibt, und ahnen, daß es viel mehr als eine Revolution benötigt, um China auf den Stand des Westens zu bringen.“

III.Was es heißt, eine seit Jahrtausenden konfuzianisch geprägte Gesellschaft auf den politischen Stand des Westens zu bringen, läßt sich vielleicht am besten in Tokio beobachten. Denn so unterschiedlich die Mentalität beider Völker ist, so sehr gleichen sich die Regierungssysteme: starker Zentralismus, Primat der Bürokratie, Umgehung der Parlamente, Schwäche der Justiz, egalitäres Schulwesen, staatlicher Einfluß auf die Wirtschaft. Nicht umsonst verzichtet der französische Sinologe Lucien Bianco in seinem Werk – eines der bedeutensten seines Fachs im Westen – auf Gleichsetzungen der chinesischen Modernisierung mit der anderer Länder. Zu einmalig sei die Entwicklung der Riesenrepublik.

Aber wenn Bianco die Reformperiode seit 1978 auf einem Begriff bringen will, spricht er von einer „wahrhaften chinesischen Meijirestauration“. Dieser Begriff umfaßt die japanische Geschichte nach 1868, als das Tennoreich innerhalb von dreißig Jahren den Sprung vom rückständigen Samuraistaat zum militärischen Sieger über Rußland schaffte und damit zur Weltmacht aufstieg. An ähnlicher Stelle steht hundert Jahre später auch China. Bisher aber gibt es keinerlei Anhaltspunkte, daß die Demokratisierung der Volksrepublik leichter sein wird als in Japan, wo sie bis heute nicht abgeschlossen ist. Trotz all seines Reichtums, trotz Sony und Toyota und den Kinoerfolgen Kurosawas hat sich in Japan bisher kein anhaltender demokratischer Regierungswechsel ergeben. Im Grunde ist es wie in China: Seit dem Zweiten Weltkrieg regieren auch in Tokio immer die gleichen.

Wie groß war unsere Enttäuschung – und unsere Naivität! –, als wir im Sommer 1993 als Japankorrespondenten die Parlamentswahlen begleiteten. Damals glaubten wir, daß das Volk bei der von vielen als historisch bezeichneten Wahlniederlage der Liberaldemokraten endlich das letzte Wort gesprochen hatte. Doch nach kurzem Interregnum waren die Alten wieder an der Macht. Es bedurfte nur einer geringfügigen Neuordnung der Parlamentsfraktionen, damit das bewährte Politikgeschäft weiterlaufen konnte. Und die Bevölkerung nahm es ohne Murren hin.

Erwartungen, daß ein demokratisches Parteiensystem ein Land wie Japan oder China in Kürze grundlegend verändern könnte, sind nach diesen Erfahrungen fehl am Platz. Im Gegenteil: Der japanische Tennofaschismus war auch ein Ergebnis demokratischer Unerprobtheit und Ineffizienz in den Jahren zuvor. Solche Risiken würde heute auch eine rasche Demokratisierung Chinas bergen. Man kann dem japanischen Beispiel vielleicht dies zugute halten: Es zeigt, mit wie wenig Demokratie es in einem nach konfuzianischen Regeln geordneten Staatswesen gelingen kann, eine sozial und wirtschaftlich effektive Gesellschaftsform zu finden, die sich mit der übrigen Welt verträgt.

Demnach müßte sich die Volksrepublik nicht von Grund auf ändern, wie es jede revolutionäre Bewegung des 20. Jahrhunderts gefordert hat. Vielmehr ließe sich das Mandarinat, das die Kommunisten zum Parteiapparat umformten, auch unter den Bedingungen einer offeneren Regierungsform erhalten. Diese These vertritt Shang Dewen, ein 66jähriger Ökonomieprofessor aus Peking, der mit Studien über eine demokratische Verfassungsentwicklung der Volksrepublik im westlichen Ausland Aufsehen erregt hat. Kritischen Studenten rät Shang zur Vorsicht: „Die Demokratie in China muß von oben kommen, unter Führung der KP, und nicht von unten.“ Die meisten chinesischen Intellektuellen sehen das derzeit ähnlich.

Wenn dem aber so ist, gebührt unsere Aufmerksamkeit im Gedenken an die Opfer vom Tiannanmenplatz dem bislang einzigen Demokratisierungsversuch der Kommunisten, der mehr als bloße Propaganda ist: den Dorfwahlen. Deng Xiaoping segnete den Plan, der bis heute nach Regierungsangaben mehr als eine halbe Milliarde Menschen an die Urne geführt hat, schon im Jahr 1987 ab. Seit einem halben Jahr gibt es nun auch ein eigenes Gesetz, daß den Bauern die freie Wahl ihres Bürgermeisters zusichert. Im einzelnen ist an der neuen Dorfdemokratie noch vieles auszusetzen: Vielerorts bestimmt die Partei die Kandidaten. Und der Bürgermeister bleibt dem lokalen Parteisekretär unterstellt. Aber immerhin sind durch die Wahlen im Laufe der vergangenen zehn Jahre bereits ein Drittel aller Dorfbürgermeister ausgewechselt worden.

Was bleibt? Uns zumindest die Aufgabe aufzuschreiben, was das Volk denkt. 1989 war das nicht gefragt. Die Bauern spielten für die Studenten keine Rolle. Deng wußte das wohl, als er der Revolte der Elite ein Ende setzte, während er zugleich die ersten Stimmzettel in den Dörfern verteilen ließ. Nicht der Überfluß der Städte, sondern die ländliche Armut sollte aus seiner Sicht den Anstoß zur Demokratisierung geben. Dabei geht es letztlich um die Frage, ob auch ein armes Land gerecht regiert werden kann oder die bürgerliche Revolution untrennbar mit der technisch-industriellen Entwicklung verknüpft ist.

Georg Blume, 35, und Chikako Yamamoto, 39, leben seit 1997 als taz- und Zeit-Korrespondenten in Peking