Schock im Massenseminar

Osteuropäische StipendiatInnen über ihre ersten Erfahrungen an der Universität Hamburg und im Westen überhaupt  ■ Von Christiane Tursi

„Uns hat man immer gesagt, der Westen bedeutet Arbeitslosigkeit“, erzählt Nerijus Mikoliunas aus Litauen. „Und daß die im Westen so reich sind, weil sie afrikanische Kolonien ausgebeutet haben“, lacht Denitza Vigenia aus Bulgarien. Beide gehören zu einer Gruppe von zwölf StipendiatInnen aus osteuropäischen Ländern, denen der Verein Copernicus für dieses Semester das Studium an der Universität Hamburg ermöglicht hat.

Copernicus e.V. organisiert seit 1992 ein Stipendienprogramm für ost- und mitteleuropäische StudentInnen, das vom Hamburger Senat, der Alfred-Töpfer-Stiftung und von privaten SpenderInnen und Mitgliedern unterstützt wird. Jedes Semester lädt Copernicus eine neue Gruppe von StipendiatInnen aus den Fachbereichen Wirtschafts-, Rechts- und Politikwissenschaft nach Hamburg ein, bringt sie in Gastfamilien unter und sorgt für ihre Begleitung und Betreuung.

Mitten im Semester haben die Neuen bereits Eindrücke gewonnen. Von den Klischees über die ordnungsliebenden, sauberen, pünktlichen, umweltfreundlichen und verschlossenen Deutschen wissen alle ein Lied zu singen. Aleksandra Podsiadlik, Politologiestudentin aus Kattowitz, kann die Erfahrung nur bestätigen, daß man zumindest mit Norddeutschen nicht schnell warm wird. „Die Leute sprechen nicht mich direkt an, wenn sie etwas wissen wollen, sondern nur meine deutsche Begleitung. Die sind nicht offen genug und ignorieren mich als Ausländerin“, ärgert sie sich.

Emin Pascha Abdullayev, Jurastudent aus Baku in Aserbaidschan, hat noch keine schlechte Erfahrungen gemacht. „Nur weil ich Ausländer bin, müssen mich nicht alle ansprechen“, meint er. „Auch viele Deutsche haben Schwierigkeiten, an der Uni Kontakte zu knüpfen, weil alles so anonym ist“, glaubt Anna Harutjunjan, Wirtschaftsstudentin aus Jerewan in Armenien.

Über 50 Leute in einem Seminar, das war für Aleksandra ein Schock. Und Denitza ist enttäuscht, daß die Wirtschaftslehre an der Hamburger Uni noch praxisferner als in Bulgarien ist. Lasch, langsam und noch mit 30 zu studieren, wäre für die StipendiatInnen, die schon mit Anfang 20 vor dem Studienabschluß stehen, undenkbar. Sie alle haben schon auf der Schule Deutsch gelernt und Russisch natürlich. Aber Englisch ist mittlerweile in vielen osteuropäischen Ländern gefragter als russisch.

Die Veränderungen „nach der Wende“ werden immer wieder schnell zum Thema. Der kapitalistische Westen ist in der Vorstellung der jungen Leute vom verordneten Feindbild zum alternativlosen Vorbild avanciert. „Ich kenne den Sozialismus als Idee nur aus Büchern. In der Praxis gab's nur Lebensmittelknappheit“, sagt Aleksandra kategorisch. Denitza bedauert, daß „das Leben irgendwie auch ärmer geworden ist durch die Massenkultur, die so stark zunimmt“. Für Nerijus aber steht fest: „Das, was wir hier sehen, kommt auch zu uns. Das ist nur eine Frage der Zeit.“ InKlusive EU und Nato.

Copernicus e.V. sucht neue Aktive und Gastfamilien für das Wintersemester. Kontakt: Jürgen von Oertzen, Tel.: 21 98 02 461