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Junge Hunde auf Kamp-nagel. Ein Überblick  ■ Von Claude Jansen

Zum siebten Mal findet das Kampnagel-Festival „Junge Hunde“ statt. Etwa 150 Künstlerinnen und Künstler aus mehr als 21 Nationen werden sich ab 15. Mai für Bellen oder Beißen entscheiden. Neben den Rahmenveranstaltungen – bestehend aus Ausstellungen, Diskussionsrunden, Performance-Nächten, einem Super-8-Freilichtkino-Programm und Partys – bilden 16 Produktionen das Hauptprogramm des diesjährigen Nachwuchsfestivals. Nationale Beiträge können sich hier Dank eines gut ausgebauten Netzwerks und einer Förderung durch die EU mit internationalen Tanz-, Theater- und Performancegruppen messen. Neben dem vom Berliner Talentschuppen „Reich & Berühmt“ und dem Züricher Theatertreffen „Hope & Glory“ ist die Kampnagel-Veranstaltung das bedeutendste Nachwuchsfestival im deutschsprachigen Raum.

Und wichtig sind sie allemal, die organisierten Treffen der jungen Theatermacher. Denn durch die Förderung der freien Bühnen hat sich in Deutschland eine eigenständige Szene etabliert, die nicht gegen, sondern neben den staatlich subventionierten Häusern existieren sollte. Aber „Junge Hunde“ müssen sich noch nicht entscheiden, welches Revier in Zukunft ihr Zuhause sein soll. Schließlich sind die meisten deutschsprachigen Beiträge von frischen Universitätsabsolventen.

Wenn im letzten Jahr der Schwerpunkt im Bereich der autobiographischen Arbeit lag, wenden sich die diesjährigen Welpen recht eindeutig politischen Themen zu. Antike Dramen werden rausgekramt und in neue Gewänder gesteckt, das Manifest eines Bombenlegers wird zur Arbeitsgrundlage, die Feminismusdebatte der 70er Jahre wiederbelebt. Apokalyptische Ängste, technischer Wahn, aktuelle politische Debatten um die Kosovo-Krise werden in verschiedenen Theaterproduktionen thematisiert.

Michael Bandt widmet seine Produktion Unabombing einem legendären Bombenleger, der 17 Jahre lang Briefbombenanschläge ohne Bekennerschreiben verübte. Seine letzte Drohung galt der New York Times, die er aufforderte, seine mehr als 200 Seiten lange Kampfansage an den technischen Fortschritt abzudrucken. Der Plan ging schief und Kaczynski wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Sein Manifest „Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft“ wurde ins Deutsche übersetzt und bildet die Textgrundlage für einen Theaterabend, der den Kulturpessimismus kurz vor der Jahrtausendwende verhandelt.

Auch Titus Andronicus hatte ein Problem mit der Zivilisation – besonders in Heiner Müllers Bearbeitung Anatomie Titus Fall of Rome. Verzweifelt muß der Protagonist erkennen, daß Zivilisation auf blutigem Boden aufgebaut und keine staatliche oder göttliche Instanz mehr zur Verfügung steht, um Gerechtigkeit einzufordern. „Das Drama von Heiner Müller erlangt eine neue Wahrheit unter Anbetracht der politischen Situation im Kosovo“, so die schweizer Regisseurin Nora Somaini, die bewußt an der Offenlegung eines bekannten Konfliktpotentials interessiert ist. Titus, der eigentliche Bösewicht, wird im Verlauf des Stückes zum Sypathieträger und Gut und Böse verschwimmen.

Mord ist auch das Thema in Anja Gronaus Produktion at: disposition 666L(eben), nach Bruckner, Dostojewskij und Sartre. Fünf Menschen sind hier auf der Suche nach der konsequenten Erfahrung. Ein Experiment mit echten Waffen, von dem noch niemand weiß, ob es überhaupt zur Aufführung kommen wird. Wer kann schon sagen, wie eine Walther PKK sich in einer Probensituation verhält? Revolution mit Hund, die zweite, nennt René Harder sein Bewegungsstück über die Wende, Gedanken an die jüngste Geschichte. Politisches Theater, bei dem die Arbeit zum Experiment wird und die Herren Racine und Majakowskij Paten standen. „Wir sind bereit zur Revolution. Nur eines muß sicher sein: Daß wir gewinnen.“

Ganze vierhundert Jahre alt hingegen ist das Drama Don Juan auf dem die Idee von gipsy hill basiert. Spuren der Vergangenheit werden wiederbelebt für einen „leisen Abend“, den der Regisseur Christoph Diem als eindeutige Entscheidung fürs Theater betrachtet. Einen kleinen Ausflug in die Antike unternimmt Telat Yurtsever. Mit Die Ohren des König Midas feiert er ein dionysisches Spektakel, oder eine zeitgenössische Antikenshow, mit 25 Darstellern und einer Live-Kapelle.

„Live Art“ bildet die zweite Kategorie des diesjährigen Festivals. „Live Art“ kommt aus England und wurde von Gruppen wie Gob Squad geprägt. Beim Leben in der Kunst, oder der Kunst im Leben, handelt es sich um eine Kombination aus Theater, Performance, Tanz, Musik, Bildenden Künsten und Neuen Medien. Ausgangspunkt dieser Arbeit sind keine dramatischen Vorlagen, sondern eigene Geschichten, die mit Fremdtexten kombiniert werden. In der Regel sind die Live-Art-Künstler keine ausgebildeten Schauspieler oder Regisseure.

Wie etwa Judith Wilske, die ein abgeschlossenes Studium der Wirtschaftswissenschaften hinter sich hat. Why do you shop? heißt deshalb ihre Forschungsreise in die beliebten Einkaufszentren dieser Stadt. Unterwegs im mobilen Shopping-Caravan hat Judith Wilske nur ein Ziel: Verkaufen. Allerdings keine Waren, sonder Fragen, damit Shopping endlich wieder Sinn macht.

Samtmanns Familienabend ist eine eher ungewöhnliche Aufführung. Regina Wenig und Nicola Unger haben per Anzeige eine Hamburger Familie gecastet. Zwei Wochen lang sitzen sie mit ihrer Leihfamilie an einem Tisch, begleiten sie zur Arbeit und sind beim Kaffeeklatsch mit Onkel und Tante zugegegen. „Ein Leben als Au-Pair“ nennen die beiden ihr kurzes Intermezzo in der fremden Umgebung. Mit Live-Dokumenten und Aufzeichnungen werden die beiden Theaterwissenschaftlerinnen einen Abend bestreiten, bei dem ihre Wunschfamilie die Gestaltung übernimmt.

„In Honolulu ist es wirklich schön“, schrieb Jochen Roller in seinem Brief an das Kampnagel –Team und entschuldigte damit seine Abwesenheit bei der Pressekonferenz. Roller ist auf Magnums Spuren – zumindest mit dem Finger auf der Landkarte. Zusammen mit Janine Schulze gründete der Tänzer vor einigen Jahren das Tanz- und Performanceteam lilies laboratory. Mit Greetings from Paradise inszenieren die beiden ihren eigenen kleinen Hollywoodstreifen. In stiller Hingabe wird die Südseeinsel erforscht. Eine virtuelle Reise ins Paradies mit choreographierten Klischees einer Exotik und einem Hawaii, das es so noch nie gegeben hat. Hawaii als nachkolorierter Mythos.

Soy: Sa. 15 + So, 16. Mai, 20 Uhr Why do you shop: ab 15. Mai Unabombing: So, 16., Di, 18.+ Do, 20. Mai, 20 Uhr Samtmanns Familienabend: Fr, 21. bis So, 23. Mai, 19 Uhr Anatomie Titus Fall of Rome: Di, 25., Do, 27, So, 29. Mai, 19.30 Uhr at: disposition 666 L(eben): Mi, 26. bis Fr, 28. Mai, 20.30 Uhr Kein Ungargassenland: Do, 27. bis Sa, 29. Mai, 20 Uhr Gipsy Hill: Fr, 28. + Sa, 29. Mai, 20 Uhr Revolution mit Hund, die zweite: So, 30. Mai + Do, 3. Juni Die Ohren des König Midas: Mi, 2. + Fr, 4. Juni, 20 Uhr Tête: Mi, 2., Fr, 4 + Sa, 5. Juni Greetings From Paradise: Do, 3. bis Sa, 5. Juni, 20. 30 Uhr