Melancholie mitten im Mai

■ In seiner neuen Choreographie „P(elleas) und M(elisande)“ vereint Urs Dietrich leises Blech, acht Tänzer und einen schmucklosen Festsaal zu einem kühl-schönen Gesamtkunstwerk

Wenn „Lauter Blech“ an gewöhnlichen „Lauter Blech“-Tagen auftritt, gibt's einen schönen Radau. Denn die temperamentstrotzende Bremer Blaskapelle aus dem ganz weiten Dunstkreis des Blaumeier-Ateliers hat das Zeug dazu, es mit den schnellsten Blechbands der Welt aufzunehmen. Da muß dann zwecks Weiterentwicklung schon mal einer kommen, und so einer Gruppe wie „Lauter Blech“ etwas anderes beibringen. Das Gegenteil zum Beispiel. Dieser jemand ist jetzt gekommen. Er heißt Urs Dietrich, ist Choreograph am städtischen Tanztheater und hat es in einer profi-semiprofessionellen Partnership geschafft, „Lauter Blech“ zum Schweigen zu bringen. Auf seine Regieanweisung wiegen sich acht „Lauter Blech“-Musiker in einem prozessionshaften Marsch wie Pantomimen durch's Concordia. Und das ist mal ein guter Anblick.

Mitten im Mai ist die Melancholie ausgebrochen. Vom „Lauter Blech“-Temperament und dem Hauptthema des Abends, „Pelleas und Melisande“, ist nichts geblieben – ist alles geblieben. Maurice Maeterlinck hat unter diesem Titel einmal eine zarte und tragische Dreiecksgeschichte geschrieben. Und Claude Debussy hat dazu eine ebenso zarte Oper komponiert. Bei Urs Dietrich aber ist die Dreiecksgeschichte erwartungsgemäß aufgehoben und durch Vielecke ersetzt. Nur das Zarte, Vage, Reduzierte und Melancholische rettet er herüber in seine neue Choreographie im Concordia und würzt das Ganze mit einer winzigen Prise Ironie.

Ein schmuckloser Festsaal lange vor dem Morgengrauen. Die Stühle sind hoch gestapelt, der Wirt ist schon zu Bett gegangen. Katrin Plötzkys und Urs Dietrichs Ausstattung sieht aus wie Edward Hoppers „Nighthawks“ drei Stunden später, nachdem auch die letzten Gäste zu Hause sind. Doch dann huschen Gestalten über die Bühne. Es zieht die Prozession vorbei, und als sie stehenbleibt, spielt die Kapelle den Slow March von Charles Ives so, daß es einem über den Rücken schauert.

So, wie aus Pantomimen langsam Musiker werden, verwandeln sich die huschenden Gestalten in Tänzer. In grauen Anzügen und barfuß bilden die vier Männer und Frauen Paare, vereinzeln wieder und gruppieren sich dann neu. Einmal zitiert Urs Dietrich Tai-Chi-hafte Bewegungen, ein anderes Mal läßt er das Männerquartett einen Marsch auf dem Arsch tanzen und wenig später choreographiert er schnelle, schon rastlose Drehungsbewegungen. Doch fast jede Steigerung ist nur das Mittel, eine permanente Leerung der mit Blumen gemusterten Bühne zu inszenieren. Abschied und Ende sind hier der ständig variierte und immer wieder neu arrangierte Dauerzustand.

Nur langsam und kaum spürbar greifen die Elemente ineinander. Das Licht, das mal Nachtkatzengrau ist und mal wie ein Straßenlampenschein durchs Fenster hineinfällt, changiert ebenso zart wie die musikalisch und tänzerisch erzeugten Farben der Melancholie. Erst sind die sehr genau und sensibel arrangierte Musik und der Tanz noch nicht ineinander verschränkt. Ein als „Abschiedssymphonie“ choreographierter Chorsatz wird von Tanz nur touchiert. Doch im Lauf der guten Stunde verschränkt sich alles zu einem symbiotischen Gesamtkunstwerk.

Einzelne Abschnitte der Choreographie wirken zwar (blödes Wort:) beliebig. Diesen staffellaufhaften Szenen, in denen die Tänzer einander zu kurzen Soli ablösen, machen den Eindruck, als müßte jeder mal dürfen. Doch angefangen mit der Eröffnungsprozession zeigt Urs Dietrich in dieser Choreographie, daß er Stimmungen so geschickt modellieren kann, wie andere Leute nicht mal Knetgummi. In einer Szene für Tänzer und Spiegel entstehen zart-witzige Figuren, und in einem aus dem Wälzen beim Schlafen gesteigerten Crescendo sogar selten gesehen kraftvolle. „P(elleas) und M(elisande)“ ist für die Jahreszeit vielleicht ein bißchen zu kühl, aber trotzdem zeitlos schön.

Christoph Köster / Foto: J.L.

Aufführungen am 11., 12., 14., 15., 22., 23. und 29. Mai um 20 Uhr im Concordia