Stillos und undiszipliniert

Seit dem Ende der Epoche des Jugendstils wirbelt das Design ziellos über den turbulenten Jahrmarkt der Trends  ■   Von Günter Höhne

Zum ausgehenden 19. Jahrhundert hauten Europas Künstler, Architekten, Kunsthandwerker und Typographen noch einmal kräftig auf die Pauke. In einem rasanten Wirbel erfaßte der Jugendstil, auch Art Nouveau (in Frankreich), Decorative Style (in England) und Sezessionsstil (in Österreich) genannt, innerhalb weniger Jahre ganz Europa. Seine Vertreter sagten dem weitverbreiteten, akademisch endlos wiedergekäuten schwülstigen Historismus einerseits und roher, utilitaristischer technischer Formgebung andererseits den Kampf an. Es gelang ihnen, einen weitgehend verbindlichen (und verbindenden) nationalen und internationalen Formen- und Zeichenduktus als Stil einer Epoche zu installieren. Dies war eine ebenso effiziente wie kurze und zugleich die letzte klar definierbare ästhetische Ära in der Architektur- und Designgeschichte der Neuzeit.

Daß ihre wunderbare homogene Vielfalt in wenigen Jahren ganz Europa erobern konnte – verglichen mit vorangegangenen Stilepochen in Windeseile –, rührte vor allem daher, daß völlig neue Kommunikationstechniken und Marketinginstrumente das Regiment angetreten hatten. Druckverfahren, Text- und Bildübertragung erlebten eine Revolution nach der anderen. Das Reklameplakat etablierte sich in der öffentlichen Alltagskultur. Landesgewerbe- und Weltausstellungen machten Gestaltungstrends. Große Handelsmessen wie die Leipziger offerierten nicht mehr Lagerbestände, sondern Produktmuster für die Massenherstellung von Serienerzeugnissen.

Heute, hundert Jahre später, kein Stilcredo mehr weit und breit. Nach dem Jugendstil blieb jedem neuen autoritären Designansatz durchschlagender Erfolg verwehrt. Vom Art deco über die Neue Sachlichkeit bis zur Postmoderne – alles blieb nur kurzfristiger Champion (oft bloß in regionaler Arena) oder bestenfalls Dauerläufer unter vielen anderen in einem Marathonfeld von Gestaltungsprofis und -amateuren, das immer größer wurde. Nun läßt sich über der Zielgeraden das Willkommenstransparent „Globalisierungsfalle“ entziffern.

Alle wollen und viele können alles – nachmachen und mitmachen, wenn es um Gestaltungstendenzen und Designgags geht. Philippe Starcks Personalstil wird in koreanischen Billigprodukten verwurstet. Der amerikanische Grafikdesign-Provokateur Davis Carson wird zum unfreiwilligen Weltzirkusdirektor tausendfach nachäffender Möchtegernclowns der Typografie. Ein originärer Firmenstil wie der des dänischen Audio- und TV-Spezialisten Bang & Olufsen findet sich auf einer Designmesse in Singapur totkopiert. Stil ist out, Trend ist in.

Die Architektur- und Designstile von einst brachten missionarische Weltverbesserer gegen einen etablierten Zeitgeist hervor. Sie wurden vor allem in schulischen und akademischen Widerstandsnestern ausgebrütet, wie die Wiener Sezession oder die Bauhaus-Bewegung. Oder von wirtschafts- und kulturpolitisch kreativen Interessen- und Künstlervereinigungen initiiert, wie die Wiener Werkstätten oder der Deutsche Werkbund. Zuweilen trugen sie die Handschrift einzelner genialer Entwerfer. Woher aber kommen die stillosen, kurzatmigen Trends von heute? Wo stehen ihre Ideenschmieden, welche Werkzeuge geben ihnen Form und Richtung?

Die Inflation der zahllosen Trendmessen in der Welt läßt seit rund fünfzig Jahren in riesigen Riesenrädern und turbulent rasselnden Karussells all die Trendinnovationen, Trendimitationen, Trendplagiate in schwindelerregendem Tempo an unseren Augen und Bedürfnissen vorüberfliegen. Genau auf den flüchtigen „Ist das nicht hübsch, hast du das gesehen“-Effekt fliegen die Messebesucher und potentielle Käufermassen herein, ob auf einer „Tendence“ in Frankfurt oder auf einer „deco in“ in Berlin.

Messen sind längst keine Maßstäbe mehr für Stil und beispielhafte Wertigkeit. Auch jene Zukunftswerkstätten leisten das nicht, an denen sich heute DesignerInnengenerationen für das Überleben in der mehrwertorientierten Marktwirtschaft trainieren, die Hochschulen und Akademien. Antizipatorisches, funktionell und stilistisch Zukunftsträchtiges artikuliert sich hier meist nur noch auf zwei Arten: entweder in gesellschaftlich fast wirkungslosen kessen Semesterübungen. Oder in aus Drittmitteln finanzierten realkapitalistischen Projekten. An der Jahrtausendschwelle keine Aussicht auf eine visionäre (Lebens- und Kultur-)Stilbewegung. Im digital zukunftsorientierten Designzeitgeist ist Trend eher das perfekte Styling fürs virtuelle Kaufhaus.

Freilich hat die Abwesenheit stilistisch verbindlicher Orientierung in Design und Architektur auch ihr Positives. Sie räumt einen Gewinn an dinghaft gestaltetem Pluralismus in der Gesellschaft ein. Design, die „undisziplinierte Disziplin“, wie der renommierte Kölner Designtheoretiker Michael Erlhoff das Wesen zeitgenössischer Kommunikations- und Produktgestaltung so treffend charakterisiert, ist auch Ausdruck von Demokratie. Wer für sich aber statt eines Lebens zwischen Trends doch eines mit Stil in Anspruch nehmen möchte, der kann seinen ganz eigenen entwickeln und pflegen. Der Pluralismus im Design macht's möglich.

Übrigens: Eine ganz praktisch-anschauliche Stilberatung in diesem Sinne bietet vom 7. Mai bis zum 20. Juni das Internationale Design Zentrum Berlin in der Oberbaum City. Der britische Top-Designer Jasper Morrison stellt anhand von hundert exemplarisch von ihm ausgewählten Produkten seine Stil- und Trend-Erkundungen zum „Stand der Dinge“ in einer großen Ausstellung anläßlich des Erscheinens seines „Internationalen Design Jahrbuchs 1999/2000“ zur Debatte.

Internationales Design Zentrum Berlin, Rotherstraße 16, 10245 Berlin, Tel.: 29 33 51-0