Das Spargelwunder

■ Endlich gelüftet: Das Geheimnis der Beelitzer Gemüsevermehrung

Die Angestellten des internationalen Städte- und Gemeindebundes sahen sich kürzlich mit einem neuartigen Phänomen konfrontiert. Gleich stapelweise liefen bei ihnen Anträge von Dörfern in ganz Europa ein, die vorübergehend ihren Namen ändern wollten. Die Papierflut ließ sich regional kaum eingrenzen. Der Weiler Tavsanlisker in Anatolien schickte ebenso einen Brief wie das Dorf Villaroja auf der glühenden Hochebene der spanischen Extramadura. Nordirland, Lüchow-Dannenberg, Sizilien, Peloponnes – die Liste las sich wie ein TUI-Urlaubskatalog.

In ihren freischwingenden Bürosesseln ob des unvorhergesehenen Arbeitsanfalls aufgeschreckt, begannen die KontrolleurInnen zu recherchieren. In manchen Dörfern, so ergaben Nachforschungen, hatten die Bürgermeister bereits die verrosteten Ortseingangsschilder durch fabrikneue Exemplare ersetzt. Europaweit lagen in den Rathäusern kistenweise bunte Prospekte herum, die vergnügte Bauern mit breitkrempigen Hüten und BäuerInnen mit farbenfrohen Kopftüchern in eigentümlicher Hockstellung in tiefen Ackerfurchen zeigten.

Mit einer Art Rasterfahndung fand der Gemeindebund heraus, daß alle Orte, die sich umbenennen wollten, einige gemeinsame Merkmale aufwiesen. Dort gab es vornehmlich Sandboden, auf dem außer Kiefern und Kartoffeln fast nichts wächst. In den Käffern war wirtschaftlich absolut tote Hose, selbst samstags mittags sagten sich auf den Marktplätzen Fuchs und Hase guten Tag. Die Jugend hatte längst das Weite gesucht.

Nur zwei Monate in jedem Jahr pflegte sich dieser gottverlassenen Ansiedlungen eine merkwürdige Unruhe zu bemächtigen. Jeweils in dieser Zeit herrschte plötzlich auch ein außergewöhnlicher Arbeitskräftemangel, so daß die Behörden Arbeitsemigranten vorbeischickten, auf daß diese acht Wochen in Hockstellung verbrächten.

Die Dörfer wollten sich übrigens alle entweder in Beelitz oder Nienburg umbenennen. Der erste Name gehört einer mittlerweile verfallenen Sowchose südwestlich von Potsdam, der zweite einer Tankstelle, die sich nur in unwesentlich besserem Zustand befindet und an der Bundesstraße zwischen Hannover und Bremen liegt.

An diesem Punkt wären die Erkundigungen wohl versandet, wenn nicht bei einem Mitarbeiter der für Ortsnamen zuständigen Abteilung just zu der Zeit der Brief eines Freundes aus Berlin eingetroffen wäre. Darin hieß es:

„Der Frühling ist doch die schönste Jahreszeit an der Spree. Dazu trägt besonders bei, daß es nun überall in der Stadt frischen Spargel zu kaufen gibt. Wie ich die weißen Stangen liebe! Mit gelber Soße vergöttere ich sie! Die Saison beginnt am Stichtag des 22. April. Da wird der erste Spargel gestochen. Wenige Stunden später bieten die HändlerInnen ihn schon an jeder Straßenecke feil.

Überall original Beelitzer Spargel. Man wundert sich, wie der kleine Ort mit seinen wenigen Hektar über Monate derartige Mengen des wohlschmeckenden Gemüses hervorbringen kann. Wie ich weiß, gibt es dort nämlich nur noch eine verfallene Sowchose mit drei alten Bauern, die inzwischen Mühe haben, für ihren Traktor aus sowjetischer Produktion Ersatzteile zu bekommen.

An den Spargelständen herrscht ein buntes Völkergemisch. Es schadet nicht, der europäischen Sprachen mächtig zu sein, wenn die Verkäufer Dir rachitische, grüne Stängchen einpacken wollen, die ihrem heimischen Beet schon seit einer Woche nachtrauern. Dann wickeln sie Dir Deinen Spargel in das Papier des Telegrapho Sevillano oder das irgendeiner griechischen Provinzzeitung, die am Bahnhof wahrscheinlich zu den Ladenhütern gehört und deshalb an die Beelitzer Spargelbauern gerät. Manchmal findet man auch eine Peseta-Münze oder Drachmen im Wechselgeld. Wie dem auch sei, die Nachfrage hier steigt, und sie wird befriedigt.

Wie heißt es doch gleich? Der Spargel-Freund nimmt als Beilage zum Spargel am liebsten Spargel ...“ Hannes Koch