Düster bis zum Anschlag

„Wenn Panacea sich live mit einem Ziegelstein den Schädel einhaut, ist das nicht mein Ding“: Der Berliner Drum 'n' Bass-Produzent Tim Hielscher möchte lieber Aggressionspotentiale abbauen und Härte durch Penetranz und Genauigkeit erzielen  ■   Von Andreas Hartmann

Wenn man sich in dem Wohn- und Arbeitszimmer von Tim Hielscher umsieht, vermißt man sofort etwas: Platten. Nicht mal ein Plattenspieler steht herum. Blickfang ist ein kleiner Maschinenpark, der sich um den Rechner zentriert. Doch Hielscher braucht keine Platten und keinen Plattenspieler, seine Arbeitsweise ist eine andere: „Ich höre schon viele Sachen, auch von anderen Leuten. Ein paar Klangeindrücke reichen mir jedoch meist. Am liebsten aber höre ich meine eigenen, frisch produzierten Tracks aus dem Rechner.“

Tim Hielscher ist Drum 'n' Bass-Produzent. Unter dem Namen Current Value ist gerade sein zweiter Longplayer „Seeds Of Mutation“ erschienen. Was man darauf aber hört, ist kein Drum 'n' Bass für die Cocktailbars und Fahrstühle dieser Welt, sondern Musik nur für ganz hartgesottene Menschen. Man nennt diese Variante von Drum 'n' Bass Techstep, ein Versuch, die Härtegrenzen von Drum 'n' Bass abzustecken. Oder, um es mit Irvine Welsh zu sagen: Techstep ist der Heavy Metal für die „chemical generation“.

In Deutschland gedeiht diese Stahlgewitter-Elektronik ganz besonders gut in Frankfurt, wo vor allem der stämmige Panacea das Böse-Buben-Image kultiviert wie sonst keiner. In Current Value hat jetzt aber auch Berlin einen Spezialisten für die bleischweren Techstep-Dröhner, einen obsessiven 22jährigen Beatschneider, der eigene Live-Auftritte als „regressiv“ und Zeitvergeudung abtut: „Live zu spielen kommt einem produktiven Stillstand gleich, weil man bereits produzierte Sachen bloß neu zusammenstellt und abspielt. Aber eigentlich müßte man längst schon wieder an neuen Sachen sitzen.“

Nun betonen Musiker ja gerne, daß ihre Arbeit etwas ganz Eigenes, Spezielles, mit nichts anderem Vergleichbares sei. Bei Current Value breitet sich der Bezugsrahmen dagegen offen aus. Ganz klar: No U-Turn, britischer Techstep anno 96, die bis heute wirklich finsterste Sorte von Drum 'n' Bass, die mit dem Tunnelblick. An dessen Verfeinerung arbeitet Hielscher. Mit einem Ernst, der ein bizarres Bild vom deutschen Bierbrauer heraufbeschwört, der seinen Feldzug für den Erhalt des Reinheitsgebots ausficht, weil er Angst davor hat, Kirschbier könnte ihm wider Erwarten doch besser schmecken als traditionell gebrauter Gerstensaft. „Wenn du zuviel andere Sachen hörst, geschieht es einfach, daß du dich den jeweiligen Trends anpaßt. Mir würde das auf jeden Fall passieren. Es gibt einfach zu viele andere gute Sachen. Da ist die Gefahr viel zu groß, auf irgendeinen Zug aufzuspringen und dabei zu vergessen, was man eigentlich selber machen möchte.“

Nach solchen Worten kommt man kaum darum herum, bei Current Value einen gewissen Konservatismus auszumachen, Wertkonservatismus, wenn man so will. Während Panacea beispielsweise eine Hauptsache-Voll-Stoff-Ästhetik kultiviert – manchmal unfertig klingende Tracks, Klirren und Krach als emotionale Geste –, bastelt Tim seine Sachen stets zu kompakten Präzisionsinstrumenten. „Leute finden es hart, wenn es düster bis zum Anschlag ist und die Lautsprechermembranen rausfliegen. Ich finde das eher blöd und tierisch. Wenn Panacea sich live mit einem Ziegelstein den Schädel einhaut, mag das sein Ding sein, meines ist das nicht. Unter Härte verstehe ich etwas anderes. Die muß für mich viel manipulativer sein, nicht so ausufernd. Auch in der Produktion. Ich will Härte durch Penetranz erreichen. Die Tracks ausfeilen bis zum Gehtnichtmehr. Hauptsache übersteuert und trashig, das ist nicht mein Ding.“

Musik nicht als Waffe, wie es William S. Burroughs und Alec Empire begrüßen, sondern als Ausdruck kontrollierten Aggressionspotentials. „Bei manchen Hardcore-Acts hat man doch wirklich das Gefühl, die haben was an der Waffel. Ich baue beim Produzieren ja auch Aggressionen ab, aber die werden ganz leise durch eine schmale Öffnung herausgelassen.“ Current Value legt weniger Wert auf destruktives Leerfegen eines Dancefloors als auf das erhabene Gefühl, sich in einem Geschwindigkeitsrausch wiederzufinden: „In der Geschwindigkeit soll ein Sog entstehen, der Musikhören zum Trip macht.“

Sog und Trip, klassische Rave-Topoi. Techstep aber ist hart, ist Jungsmusik, provoziert Drogenkonsum. Keine Musik, zu der man sich wohlig in Clubsesseln räkelt oder glücklich auf dem Floor die Arme schwingt. Doch man kann ja auch zu Hause ganz gut headbangen. Current Value: „Seeds Of Mutation“ [Chrome/EFA]