„Kein Kontakt zu Deutschen“

■ Sie ist Veteranin der Roten Armee und Jüdin zugleich - trotzdem lebt sie in Berlin. Alljährlich feiert Assja Rosental am 9. Mai den „Tag des Sieges“ über Hitlerdeutschland  Von Nino Ketschagmadse

Die kleine Frau mit den grauen Kraushaaren sitzt zurückgelehnt auf ihrem Stuhl. „Ich betrachte es als Ironie des Schicksals, hier zu sein“, sagt Assja Rosental. Sie ist 79 Jahre alt und eine Kriegsveteranin. Mit 62 anderen, ehemaligen Sowjetsoldaten macht sie an diesem Montag, dem 10. Mai, einen Ausflug mit einem Schiff auf der Oder.

„Als wir gestern unsere Kränze am Ehrenmal für die deutsche Kapitulation niederlegten, mußte ich an meine Eltern denken“, sagt Rosental. „Was hätten die wohl dazu gesagt, wenn sie mich hier gesehen hätten?“

Die Jüdin Assja Rosental verließ die ehemalige Sowjetunion Mitte der 90er Jahre und lebt seitdem in Berlin - im früheren Feindesland. Ähnliche Lebenswege haben alle Mitreisenden auf dem Schiff zurückgelegt.

Im Veteranenklub der Jüdischen Gemeinde an der Oranienburgerstraße treffen sie Leute gleichen Schicksals. Gepeinigt durch die Lebensumstände ihrer Heimat nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wanderten die Juden nach Deutschland aus - in ein doppelt ungeliebtes Land.

Der Klub zählt 100 Veteranen. Assja Rosental selbst hat im 2. Weltkrieg nicht gekämpft. Neben früheren Rotarmisten gelten als Veteranen auch KZ-Gefangene, Blockadefrauen aus Leningrad, und die Menschen, die im Hinterland zum Beispiel in Hospitälern gearbeitet haben. „Auch wenn man nicht an der Front kämpfte, gibt es etwas zu erzählen“, sagt Assja Rosental.

Die 22jährige Ukrainerin arbeitete 1943 als Arzthelferin in einem Hospital in Dagestan am Kaspischen Meer. „Die Züge kamen voll mit verwundeten Soldaten“, erinnert sich Assja Rosental. „Nur Schmutz, Eiter und Würmer. Wir packten sie aus, wuschen sie und legten ihnen frische Verbände an. Sie schliefen dann wie kleine Kinder, sehr lang. Es läuft mir eiskalt den Rücken herunter, wenn ich an diese Zeit denke!“

Sie singt nicht mit, als die anderen ihre Stühle auf dem Schiffsdeck zusammenrücken und in den Gesang des Musikanten Igor Gelmann aus Novosibirsk einstimmen. Er gehört der Nachkriegsgeneration an und begleitet die Gruppe mit Liedern über den großen Vaterländischen Krieg seit dem 6. Mai, als der Veteranenclub eine offizielle Versammlung mit kulturellen Programm zum Siegestag veranstaltete. „Sie singen schrecklich durcheinander“, stellt Assja Rosental fest.

Wie fast alle Veteranen, spricht sie nur ein paar Worte Deutsch. Zu Hause ließt man russische Zeitungen und verfolgt das russische Programm im Fernsehen. Oft tun die Auswanderer nicht mehr, als einsam in ihren Wohnungen zu sitzen, erzählt Pawel Werbizkji. „Ich bin der Jüngste hier“, lächelt der 77Jährige.

Er lebt mit seiner Frau zusammen, die nicht mehr richtig sehen kann. „Wir bekommen jeden Monat 500 Mark. Für das Essen reicht es. Die Miete zahlt das Sozialamt. Wir gehen nicht ins Kino oder ins Theater.“ Pawel Werbizkji findet es schade, daß er nicht mehr arbeiten kann. „Es gibt keine Arbeit, keine Perspektiven, keine Kontakte mit Deutschen“, stellt er traurig fest. „Als ich 1946 in Berlin stationiert war, habe ich viel Deutsch gesprochen. Mit wem kann ich heute sprechen?“

Das Veteranentreffen alle zwei Wochen im Klub ist eine willkommene Unterbrechung der alltäglichen Monotonie. Die Senioren zwischen 60 und 95 Jahren begehen neben den jüdischen auch die sowjetischen Feiertage. Ab und zu stehen Ausflüge auf dem Programm, wie auch diese Schifffahrt einen Tag nach dem offiziellen sowjetischen Datum zum Gedenken an den Sieg über den deutschen Faschismus.

Das Wetter spielt mit und die gelben Rapsfelder leuchten in der Sonnenlicht. Die polnischen Grenzsoldaten kontrollieren keine Pässe.

Auf der deutschen Seite aber müssen die Veteranen Schlange stehen. Die Grenzübergangspost ist verwirrt angesichts der vielen verschiedenen Reisedokumente. Doch die Ordnung wird schnell wieder hergestellt: „Blaue Pässe links anstellen, rote rechts.“ - „Ich habe einen grünen“, sagt verzweifelt eine Frau. Die Beamten haben ein Einsehen - sie darf sich den Rotpäßlern anschließen.

Der Tag geht zu Ende, die Reise auch. Müde, aber zufrieden steigen die Veteranen vor der Synagoge auf der Oranienburgerstraße aus dem Bus aus.

Sie sehen sich am Donnerstag in einer Woche wieder . Bis dahin reicht die Erinnerung an diesem Tag.