■ Die Grünen sind die unzufriedenste Regierungspartei seit 1949
: Erschöpfendes Lamento

In einem eigentümlichen Widerspruch zu der Spannung, mit welcher der Parteitag der Grünen zum Kosovo-Konflikt erwartet wird, steht die Folgenlosigkeit dessen, was dort beschlossen wird. Niemand geht ernsthaft davon aus, daß die Nato ihre Luftschläge ab dem kommenden Wochenende bedingungslos einstellt, mögen die Mehrheiten dafür auf dem Parteitag auch noch so überwältigend sein. Und welche Macht der Partei sollte den Außenminister zwingen können, als Fehler zu benennen, was er mit Eifer und teilweise mit Erfolg betreibt? Wer wagte den Bruch der Koalition zu formulieren, wo doch noch keiner einen Lebenszweck der Grünen jenseits eines Regierungsbündnisses zu finden vermochte?

Um auf bessere Zeiten zu warten, dazu sind die Protagonisten allmählich zu alt. Einen weiteren langen Winter in der Opposition würde die Partei nicht überstehen, dazu ist sie mittlerweile zu mager. Deshalb wird, wenn der Parteitag nicht in eine selbstzerstörerische Irrationalität verfällt, wieder eine jener Kompromißformulierungen gefunden werden, die der Partei ihre Überzeugung und Joschka Fischer die Möglichkeit zu handeln beläßt. Welches Prinzip würde damit geopfert, das nicht bereits im letzten Herbst aufgegeben wurde, als die Grünen einem Kampfeinsatz ohne UN-Mandat zustimmten?

Gewiß könnten sie darum eine treffliche Debatte eröffnen, ob es Sinn macht, das Völkerrecht um ein Weltbürgerrecht zu erweitern und den Sicherheitsrat entsprechend zu reformieren, oder ob das in eine weltpolitische Sackgasse führt. Sie könnten sich fragen, ob man tatsächlich Kampftruppen braucht, um im Kosovo Frieden zu erzwingen. Ersteres wäre eine in der Tat richtungsweisende Auseinandersetzung. Letzteres böte Gelegenheit, die Verlogenheit der bisherigen Programmlage zu bereinigen.

Doch seien es Blauhelm- oder Kampfeinsätze, sei es die Nato-Osterweiterung oder die neue Nato-Doktrin, seit Jahren laufen die Grünen den Geschehnissen der Außen- und Verteidigungspolitik hoffnungslos hinterher. Und wenn der Parteitag erst vorüber ist, werden sie mit flauem Gefühl wieder feststellen, daß sie Wahl für Wahl an Prozentpunkten verlieren, daß sie auch auf anderen Feldern der Politik nicht mehr die Vorreiter spielen. Wie lautet die Botschaft der Grünen für Europa? Wo sind sie zu vernehmen, wenn sich Riester, Schröder und die Gewerkschaften über die Potentiale des Niedriglohnsektors auseinandersetzen? Außer zwei zaghaften Vorschlägen zur probeweisen Einführung staatlicher Subventionierung war nicht viel zu hören in den letzten Wochen.

Von welcher Richtschnur läßt sich die Haushaltspolitik der Grünen, wovon ihre Familienpolitik leiten? Gewiß liegen Konzepte vor, doch die wichtigen Debatten um die Zukunft der Gesellschaft werden mittlerweile vor allem in der Sozialdemokratie ausgetragen. Die ringen um den dritten Weg. Doch ist der ein genuin sozialdemokratisches Projekt? Auch darüber ließe sich die Auseinandersetzung führen, dafür müßten sich die Grünen öffnen.

Doch deren Leidenschaft erwacht anscheinend erst, wenn überkommene Prinzipien zur Disposition stehen, wenn sich daran die Tagespolitik säuberlich in Gut und Böse scheiden läßt. So war es beim Atomausstieg, so war es bei der doppelten Staatsbürgerschaft, so ist es bei den Luftangriffen. Die Grünen stehen im Zenit ihrer Macht und erschöpfen sich im Lamento, daß das, was sie wollen, nicht geht, und daß das, was geht, nicht das ist, was sie eigentlich wollten. Sie sind die wohl unzufriedenste Regierungspartei seit Gründung der Bundesrepublik.

Dabei regieren sie nicht einmal so schlecht. Wenn schon nicht sie selber, so geht doch zumindest der überwiegende Teil der Bevölkerung davon aus, daß sie einige ihrer grünen Programmpunkte durchgesetzt haben. Das Amt des Außenministers ist so angesehen wie seit Genschers Gang nach Prag nicht mehr, und die Gesundheitsministerin Fischer hat ein Reformwerk vorgelegt, das Kostendämpfung wieder zu einem Begriff der Gesundheitspolitik macht. Nur führt sie ihren Kampf gegen Ärzte, Kassen und Dreßler anscheinend alleine, und auch die Außenpolitik mag die Partei nicht als die eigene annehmen. Wen wundert bei soviel zur Schau gestellter Distanz zum Regieren, daß nur 19 Prozent der Bürger die Grünen für eine regierungstaugliche Partei halten. Dabei ist die Teilhabe an der Regierung doch noch das einzi ge, was sie am Leben hält. Dieter Rulff