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: Targets an der Croisette

■ Mit „Der Barbier von Sibirien“ wurden das Filmfestival von Cannes eröffnet

Offensichtlich war es vor über hundert Jahren um die Englischkenntnisse nicht nur der russischen Oberschicht, sondern auch des gemeinen russischen Volkes – wenn man die Wache eines Moskauer Stadtgefängnisses dazu zählt – besser bestellt als heute. Denn während im Moskau von Nikita Michalkows „Barbier of Siberia“ so gut wie jeder Englisch spricht, mochten der Regisseur und seine Schauspieler bei der Pressekonferenz auf eine Übersetzerin nicht verzichten.

Hätte man Michalkow danach gefragt, dann hätte er dieser Beobachtung ohne weiteres zugestimmt. Denn so, wie der „Barbier“ von Rußland erzählt, war es zur Regierungszeit des Zaren Alexanders III. um das Imperium und seine Menschen, um deren Bildung, deren Essen und deren Feste, vor allem aber um das Militär tatsächlich weit besser bestellt als heute.

Es war so gut bestellt um das Land, daß es keineswegs eine Nachlässigkeit Ihrer Berichterstatterin ist, ein Rückfall ins Sprachklischee, wenn ich vom gemeinen Volk spreche. Denn damals, als alles soviel besser war als heute, da war das Volk eben noch Volk, das heißt, es war gut, gutmütig und gut aufgelegt, besonders zum Feiern.

Nein, ganz so schrecklich, wie es zunächst scheinen mochte, war der Eröffnungsfilm des 52. Festival de Cannes keinesfalls. Die Geschichte, wie sich ein sehr romantischer und bildschöner Kadett des Zaren in eine bessere amerikanische Prostituierte verliebt, die Julia Ormond spielt. Die Geschichte, wie auch diese vom Stiefvater geschändete Überlebenskünstlerin plötzlich der Liebe gewahr wird, entwikkelt sogar Charme – wenn man Folklore liebt und edle Kadetten. Oder Kaviar und Champagner in Strömen; Feuerwerke vor dem Kreml und militärische Vereidigungen im Kreml; sibirische Wälder, so weit das Auge reicht, und Bäume, wegen denen man den Wald nicht mehr sieht; ungebildete amerikanische Sergeanten, die nicht wissen, wer Mozart war, und technische Genies aus eben diesem barbarischen Land, die ganz Sibirien abholzen wollen. – Allein, daß die Dame von zweifelhafter Ehre sexuell mißbraucht und nicht tuberkulös ist, erweist sie unzweideutig als Filmfigur unserer Zeit und ersetzt ein Klischee des 19. durch eines des späten 20. Jahrhunderts.

Wenn Sie nun meinen, es sei eine Nachlässigkeit Ihrer Berichterstatterin gewesen, sich nicht nach den russischen Englischkenntnissen von heute und von vor hundert Jahren erkundigt zu haben, so ist zu entgegnen: Es gab dringlichere Fragen. Etwa bezüglich eines neuen panslawistischen Nationalismus, im besonderen eines serbischen Nationalismus. Eine Journalistin aus Belgrad dementierte jeden serbischen Nationalismus und trug dabei jenes T-Shirt, das sie als „target“ der Nato-Luftangriffe auswies. Sollte die Zielgenauigkeit von deren computerprogrammierten Bomben jetzt schon so doll sein, daß sie unschuldige SerbenInnen selbst in Cannes aufspüren? Zum Entsetzen der Journalistin wollte Michalkow einen bedenklichen serbischen Nationalismus keineswegs in Abrede stellen und fand das Engagement der Nato einen tragischen Irrtum, vergleichbar dem russischen Einmarsch in Tschetschenien. Mehr Krieg gab es bislang nicht. ..Brigitte Werneburg