Aids, Kitsch und Homo-Ehe

■ Rosenstolz waren mit ihrer ZUCKER-Tour im Modernes

Was wird sie heute tragen? Ich bin schon so gespannt! Minirock? Abendkleid? Oder vielleicht gar nichts, wie auf dem Cover von „Die Schlampen sind müde“? Das Dach des Modernes schließt sich gerade, im Rücken des Publikums läuft auf einer Videowand zur Einstimmung der Hochzeitssong mit Hella von Sinnen, plötzlich Applaus: Die Musiker kommen, verharren im Dunkel. „Hier sind nur Frauen und Schwule“, sagt mein gleichfalls schwuler Bruder, „und ein paar Männer, die ihre Frauen begleiten müssen.“ Dann erscheinen auch AnNa und Peter. Die Fans kreischen. Was Peter trägt, weiß ich nicht. AnNa hat jedenfalls eine silberne Space-Robe an, darunter kommen das Tattoo auf ihrem Rücken und ein schwarzes Mieder zum Vorschein. Sie legen los mit dem Opener des neuen Albums, „ZuckerRoterMond“: „Zucker schmeckt nach Deiner Haut/Und wild Dein tiefer Blick/Bringt mich fort zum roten Mond“, typisch Rosenstolz, zuckersüß und zartbitter: „Zucker schmeckt nach Grausamkeit.“ Es folgt „Die öffentliche Frau“, ein älteres uptempo-Stück, dann die erste Ballade: „Ein anderes Gefühl von Schmerz“. Wer „Schmerz“ so schmerzhaft wie AnNa hauchen kann, der hat ihn auch gelebt – denke ich mir. Nach dem nächsten Titel verschwindet AnNa hinter der Bühne, um das Kostüm zu wechseln. „Sie braucht mittlerweile 28 englische Masseure“, albert Peter. Aus dem Off hört man ihr Stöhnen. Sie kehrt frisch durchgeknetet zurück, mit breitem Hut, ein bodenlanger Schleier ist dran, darunter ein kleines Schwarzes und, ja, das sind Strapse. Übrigens kommt in dieser Garderobe ihr kleiner Bauchansatz zur Geltung, sexy! Jetzt singt sie „Nymphoman“. „Ohohoho – Ahahaha/Lieb mich, wenn Du kannst/Nimm mich, nimm mich ganz“ – ich will ja, AnNA, aber zwischen uns stehen tausend Fans und einige Verhaltensmaßregeln, es ist ein Verdruß. Oh Gott, jetzt rücken sie auch noch näher, der hintere Teil der Bühne wird mit einem Vorhang abgetrennt, die gesamte Combo sitzt am Bühnenrand: links Marc, „der einzig wahre Rockgitarrist aus Oldenburg“, dann Peter, dann AnNa, rechts von ihr die Multiinstrumentalisten Lorenzo Potenzo (Saxophon, Schellenkranz, akustische Gitarre, gelegentlich E-Baß) und Anne (Violine, Akkordeon, gelegentlich E-Baß). Rote Aidsschleifen werden auf den Vorhang projiziert, Sammelbüchsen wandern durchs Publikum, „Laß sie reden“ wird gespielt, „das Gerede von Moral/war mir immer schon egal“.

Der Vorhang bleibt für einige Stücke, schafft eine intime Atmosphäre ohne Lightshow. Dann zieht AnNa sich wieder um, kommt als Mischung aus Mireille Mathieu und Kleopatra zurück. Peter, Lorenzo und Anne formieren sich zum Chor, „wir sind die Supremes, ich bin Diana Ross“, witzelt Peter. „Kleopatra“ mit aerobischer audience-participation: uh-uh, Hände in die Luft. Bei der neuen Ballade „Perlentaucher“ (wun-der-schön!) rieselt plötzlich Glitter über den solospielenden Marc.

Die Beleuchtung ist übrigens reichlich blau: die Farbe des Unbewußten, der Sehnsucht, der Romantik ... Nach „Die Schlampen sind müde“ und „Fütter deine Angst“ folgt die offizielle Verabschiedung, aber alle wissen, daß noch ein paar Klassiker im Programm fehlen. „Nur einmal noch“ und das geniale „Schlampenfieber“ zum Beispiel. Marc sorgt mit einer Schrappgurke (oder wie diese geriffelten Holzknüppel heißen) für Südsee-Feeling.

Für den Heimweg gibt's ganz zum Schluß noch „Nackt“, eine weitere herrlich gefühlige Ballade vom neuen Album. Alles badet im Discokugel-Lichtermeer. „Ich will all deine Ängste/ich liebe dich auch nackt“ – ich dich auch, AnNA! Seufz. Es war heiß, es war gut, es war kitschig und schön. Wen störte es schon, daß die Synthieteppiche aus der Konserve kamen? Daß die Soli alles andere als ungewöhnlich waren? Aber diese Stimmung! Auch die Frage, ob man aus den gleichen Gründen in ein Rosenstolz-Konzert geht, aus denen man sich Titanic anschaut, erschien mir plötzlich belanglos. Tim Ingold