Die Freuden der Trostlosigkeit

Rafael Chirbes ist ein besessener Bastler am Detail und Erzähler mit langem Atem. Auch in seinem neuen Roman „Die schöne Schrift“ arbeitet er die spanische Geschichte des Jahrhunderts auf und konfrontiert mit dem Skandalon des Todes  ■   Von Leopold Federmair

Als Rafael Chirbes 1998 im deutschsprachigen Raum einen gewissen Bekanntheitsgrad erreichte – das Literarische Quartett wirkt Wunder –, verglichen ihn einige Kritiker mit Javier Marias, seinem höchst erfolgreichen spanischen Schriftstellerkollegen. In der Tat drängt sich der Vergleich auf: Hier der luftige, spielerische Marias, dessen Romane vorzüglich in die globalen Programme der großen Verlagshäuser passen, dort der bodenständige, vielleicht substanzreichere, europäische Erzähltraditionen fortführende Chirbes, dessen Werke in einem kleinen Münchner Verlag erscheinen.

Chirbes, Sohn eines Eisenbahners, dem seine Familie unter Entbehrungen ein Studium ermöglichte, der sich als junger Mann im Kampf gegen die Franco-Diktatur engagierte, wofür er auch bezahlen mußte, schrieb nach seinem in Spanien vielbeachteten Erstling „Mimoun“ (1988) prompt eine Satire auf den verkommenen Literaturbetrieb und die Aufsteiger seiner Generation, die sich von ihren linken Idealen gelöst haben und nur noch gelegentlich auf sie zurückblicken, um nostalgische Gefühle zu befriedigen. Vielsagender Titel dieses Romans, den die Kritik weniger goutierte als Chirbes' höchst eigenwilligen Erstling: „En la lucha final“, zu deutsch: „Das letzte Gefecht“.

Den Lektüre-Eindruck des Bodenständigen bestätigt die Begegnung mit Rafael Chirbes. Mit ihm lernt man einen welt- und sprachengewandten Mann kennen, der seine Herkunft nicht verleugnet. Er ist imstande, unrasiert, mit Plastiksäckchen, Pullover und Schnürlsamthose in ein Fünf-Sterne-Hotel zu spazieren und mit der gleichen Aufmerksamkeit empfangen zu werden wie ein Aktenkofferträger im Nadelstreifenanzug. Chirbes arbeitet seit Jahren in seinem Brotberuf für die spanische Hochglanzzeitschrift Sobremesa, für die er Reiseberichte aus aller Welt schreibt. Unlängst hat er einen Band mit einer Auswahl aus diesen Auftragstexten herausgebracht, ein wunderschönes Buch mit dem Titel „Mediterraneos“ (Mittelmeere), in dem dieser europäische Kulturraum von allen Seiten beleuchtet wird: Valencia, Lyon (laut Chirbes das „Tor zum Mittelmeer“), Istanbul, Alexandria, Kairo, Neapel ...

In seinen Romanen jedoch arbeitet er die spanische Geschichte auf, und er tut es mit einer Nachdrücklichkeit, die es dem Leser ermöglicht, eine umfassende Kenntnis dieses Landes in seinen verschiedenen Facetten zu erlangen. Die Figuren, die er auftreten und sprechen läßt, sind Leute aus „dem Volk“ – Arbeiter, Bauern, Tagelöhner, wenn der Autor in der Geschichte weiter zurückgeht; Aufsteiger, Angehörige der Mittelklasse, je mehr er sich der Gegenwart nähert.

In seinem neuen Buch, „Die schöne Schrift“, hören wir die Stimme einer alten Frau aus dem ländlichen Süden Spaniens, die von ihren Lebensenttäuschungen erzählt: Bürgerkrieg, die Angehörigen an der Front oder im Gefängnis, Hunger, mühsamer Aufbau eines bescheidenen Wohlstands, Resignation angesichts des erstickenden Klimas der Franco-Diktatur, Scheitern der Liebe: „Wir erstickten in einem Elend, das schlimmer war als jenes, das der Krieg uns gebracht hatte.“

Wie in den meisten Büchern Chirbes' herrscht auch hier ein elegischer Ton. Sprachlich wird dadurch nicht nur ein Gefühl der Vergeblichkeit und des Verlusts vermittelt, sondern auch ein lustvoller Schauer, der der Klarheit und Genauigkeit dieses Erzählens ebenso wie den knapp umrissenen, eher beschworenen als beschriebenen Bildern zu verdanken ist. Ich habe einen Satz von Rafael Chirbes im Ohr, der etwa so lautet: „Die größte Plage der Menschheit ist der Tod.“ Die Empörung über den stets drohenden, nie ganz zu verdrängenden Tod ist es, die ihn zum Schreiben treibt. Er teilt diesen schöpferischen Reflex mit vielen großen Erzählern, etwa mit Elias Canetti, der schrieb: „Schließlich, und am besessensten, ist es der Tod, den ich nicht anerkennen kann, obwohl ich nie von ihm absehe, den ich bis in seine letzten Schlupfwinkel aufstöbern muß, um seine Anziehung und seinen falschen Glanz zu zerstören.“

In diesem Erforschen und Nicht-Anerkennen einer dennoch unumstößlichen Gegebenheit resümiert sich die Empörung gegen Krieg, Elend und Ungerechtigkeit. Andererseits eröffnet die Konfrontation mit dem Tod dem Erzähler jene besondere Zeitlichkeit, die die großen Erzählräume strukturiert. Das Leben – jedes einzelne der vielen Leben, die wir etwa in Chirbes' Roman „Der lange Marsch“ mitvollziehen können – wird erst von seinem Ende her in seiner Ganzheit sichtbar: Die Einzelheiten werden bedeutsam, die Bilder aussagekräftig, die Handlungen sinnvoll.

„Es gab nichts zu retten. Die Zeit löste alles auf, und dann wehte der Wind und trug den Staub davon“, sagt die alte Frau in „Die schöne Schrift“. Diese desolate Sicht, diese Trostlosigkeit der Erzählerin ist zugleich Voraussetzung dafür, daß sie ihren Zugriff auf das Vergangene entfalten kann: In dem Augenblick, wo ihr auch noch der Staub des Gewesenen entschwindet, hat sie der Geschichte ihrer Familie bereits eine Form gegeben.

Die meisten Bücher Chirbes' entwickeln ihr Handlungsgeflecht aus solchen Keimen heraus: eine Familie, eine Gruppe von Freunden, eine politische Zelle. Je weiter die Erzählung voranschreitet, desto mehr hat man das Gefühl, daß sich nicht nur die Geschichte von Einzelpersonen, sondern die Geschichte eines Dorfes, einer Stadt, einer Region, einer Epoche, ja letztlich die Geschichte Spaniens entspinnt. Das ist besonders in „Der lange Marsch“ der Fall, dem komplexesten und anspruchsvollsten Werk Chirbes'. Hier nehmen die Fäden der Erzählung ihren Anfang in der Zeit nach dem Ende des Bürgerkriegs, der in der Erinnerung der Figuren noch präsent ist, und laufen in der Spätphase der Franco-Diktatur in Madrid zusammen.

Den weitgezogenen zeitlichen Spuren entspricht ein räumlicher Aufbau, der die verschiedenen Regionen Spaniens – man weiß von den zentrifugalen, separatistischen Kräften dieses Landes – in der Hauptstadt zusammenführt, wo die Kinder der vom Krieg geprägten Figuren einander als Studenten mit neuen oder erneuerten Idealen begegnen. Auf einer dritten Ebene gelingt es Chirbes, die soziale Struktur Spaniens sichtbar zu machen, die in Gegenwartsnähe immer mehr in Umbruch gerät. Es gibt noch Gesellschaftsromane, und sie müssen überhaupt nichts Altertümliches haben: „Der lange Marsch“ ist der Beweis.

Chirbes' großer Roman bedient sich einer dichten Sprache, die deshalb nicht erdrückt, weil er ein System von Leerstellen enthält, Türen im Erzählkosmos, durch die man von einem Raum in den nächsten treten kann. Etwas anders verhält es sich in den schmaleren Büchern, in „Der Schuß des Jägers“ und „Die schöne Schrift“, wo jeweils nur eine Stimme zu vernehmen ist, die in großem Bogen von einem Lebenlauf berichtet. Chirbes beweist damit eine doppelte Kunstfertigkeit: als Bastler am Detail, der sorgfältig ein großes Mosaik zusammenstellt, und als einer, der den raschen, aufs Wesentliche konzentrierten Erzählrhythmus beherrscht.

Rafael Chirbes: „Die schöne Schrift“. Roman. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Verlag Antje Kunstmann, München 1999, 144 Seiten, 29,80 DM Außerdem sind von Rafael Chirbes folgene Titel lieferbar: „Der lange Marsch“, Verlag Antje Kunstmann, München 1998 „Mimoun“, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1998 „Der Schuß des Jägers“, Fischer Taschenbuch, Frankfurt/Main 1998