Die Zeit steht still

Ausschlafen, Kneipentouren und Tennisspielen am Tage, warten auf die Bomben in der Nacht: Alltag in Belgrad  ■ Von Andrej Ivanji

Für Milan Nikolic ist das Leben stehengeblieben. Der 30jährige Anwalt hat seine Kanzlei zugemacht, nachdem er zehn Tage lang vergeblich auf Klienten gewartet hat. Er konnte sich mit dem Hausbesitzer einigen, die Miete erst nach dem Krieg wieder zu bezahlen. Rasch hat sich in Belgrad die Gewohnheit eingebürgert, alle Geschäfte einzufrieren, bis der Krieg vorbei ist. Das heißt auch, Gebühren und Schulden nicht zu bezahlen oder Verträge nicht einzuhalten. Wer sich an diesen Kodex nicht hält, setzt sich der Gefahr aus, als Kriegsgewinnler gebrandmarkt zu werden.

Milan Nikolic hat etwas Geld beiseite gelegt, genug, um einige Monate über die Runden kommen zu können. „Seit dieser Krieg begonnen hat, gleicht jeder Tag dem anderen. Ich habe keine Ahnung, ob heute Dienstag oder Sonntag ist. Ich stehe erst nach Mittag auf, kaufe Zeitungen, erfahre, was die Nato alles bombardiert hat, schaue mir die Todesanzeigen an, hänge dann den ganzen Tag in Cafés herum oder gehe Tennis spielen“, erzählt Milan. Der Platz kostet in diesen Zeiten des Krieges 50 Dinar (rund 4,50 Mark) die Stunde. Das kann er sich noch leisten. Soviel kostet auch ein Liter Benzin auf dem Schwarzmarkt, was er sich allerdings nicht leisten kann. Milans einzige Investition seit dem Beginn des Krieges war ein altes Fahrrad. „Ich habe fünf Kilo abgenommen, war nie in einer so guten Form“, sagt Milan zynisch.

Tagsüber, wenn das Wetter schön ist und Milan in einem Garten Kaffee schlürft, kann er für einen Moment sogar vergessen, daß die Nato zu dieser Zeit gerade einen anderen Landesteil zerstört, daß Menschen sterben. Wenn er aber durch die Kneza-Milosa-Straße nach Hause radelt, an den ausgebrannten Ruinen des Generalstabs, des Landes- und Bundesinnenministeriums vorbei, entlang der „Aschenstraße“, wird er brutal in die Wirklichkeit zurückgeholt.

Mit dem Einbruch der Dunkelheit wird es bedrückend in Belgrad. Das beruhigende Brummen der Großstadt verstummt, wird durch eine unheimliche Stille ersetzt. Alle Lokale schließen um zwanzig Uhr. Es gibt keinen Verkehr. Es gibt keine Straßenbeleuchtung. Die Menschen schließen sich in ihre Häuser ein. Die Großstadt wirkt ausgestorben. Man wartet auf neue Bomben.

„Auch nach so vielen Tagen Krieg kann ich mich an das unheilbringende, gruselige Aufheulen der Sirenen nicht gewöhnen“, erzählt Milan. Die Menschen reagieren verschieden darauf, manche erstarren einfach, werden blaß, Kinder beginnen zu weinen. Auch Milan fällt es immer schwerer, die Nächte durchzuhalten.

Mehrmals bebte sein Haus nach heftigen Detonationen. Am Anfang konnte er sich noch zusammenreißen. Doch er ist mit den Nerven am Ende. „Bei dem letzten Luftangriff der Nato bin ich unter den Tisch gekrochen“, gibt Milan zu. Nach den vielen schlaflosen Nächten hat er dunkle Ringe unter den Augen. In einen Luftschutzbunker will er aber nicht gehen, denn „ein wenig Würde muß man doch bewahren“.

Milans Schwester hat eine dreijährige Tochter und einen fünfjährigen Sohn. „Können Sie sich vorstellen, was diese Kinder durchmachen?“ Und die Nato kündigt eine Intensivierung der Luftangriffe auf Belgrad an. Wenn er seine Schwester besucht, muß Milan eine der vier Brücken in Belgrad überqueren. Wenn er während des Fliegeralarms nach Hause fährt, spielt er „Serbisches Roulette“ – Brücken sind Ziele der Nato.

„Brücken, Eisenbahnstrecken, Straßen sind zerstört. Wir sind in einem Käfig eingeschlossen, aus dem wir nicht mehr herauskommen.“ Er hat Angst davor, eingezogen und in das Kosovo geschickt zu werden. Drücken will er sich aber auch nicht. „Ehrlich gesagt ist es mir egal, was mit dem Kosovo passiert, ich war niemals dort. Ich habe bei allen Demonstrationen gegen Miloevic mitgemacht. Aber mein Land ist angegriffen worden. Es wird systematisch zerstört“, versucht Milan seine Gefühle zu beschreiben. Wenn die serbische Polizei ganze Dörfer im Kosovo zerstöre, weil sich dort albanische Terroristen befänden, sei das auch nicht anders, als wenn die Nato im Namen der Menschenrechte ein ganzes Land vernichte und unschuldige Zivilisten töte, nur weil sie einen einzigen Mann zwingen will, die Stationierung der Nato im Kosovo zu akzeptieren. Milan billigt beides nicht.

„Die Nato bedroht mein Leben, meine Familie. Wenn es sein muß, werde ich gegen den Aggressor kämpfen“, so Milan Nikolic. „Ich bin wütend auf die Nato, und Europa hat mich schwer enttäuscht.“

In einen Luftschutzbunker will der Anwalt Milan Nikolic nicht gehen: „Ein bißchen Würde muß man doch bewahren.“