Wahlkampf in Kriegszeiten

■  Zum Auftakt des Europa-Wahlkampfs müssen die Bündnisgrünen nicht nur gegen das Image als Kriegspartei, sondern auch das Desinteresse an europäischen Themen ankämpfen

„Den Leuten“, beäugt Frieder Otto Wolf die im Regen vorbeieilenden Passanten, „ist wohl noch nicht klar, daß der Wahlkampf schon begonnen hat.“ Dabei gehe es doch um Europa. Wolf, grüner Abgeordneter im Brüsseler Parlament, steht allein im Regen – zusammen mit Berliner Mandatsträgern im Angesicht der mit Mannequins verkleideten Gedächtniskirche.

Rund 40 bündnisgrüne Infostände überzogen am Wochenende die Stadt. Vom Marzahner Volksfest bis zum Markthallenstand: flächendeckend – so das Motto des grünen „Aktionstages“ am vergangenen Sonnabend –suchte die im Kosovo-Krieg gespaltene Partei in den Berliner Bezirken nach Auftaktstimmung für die kommende Europawahl. Und fand sich, nach dem Glätten der Wogen des Kosovo-Sonderparteitags, mit dem üblichen Euro-Desinteresse der in Bevölkerung konfrontiert: „Die Resonanz ist gering, Europa bleibt das Aschenputtel im Politikbewußtsein des Bürgers“, so der Berliner Abgeordnete Hartwig Berger.

So spannen die wetterfesten Wahlkämpfer am Zoo die blauen Europa-Regenschirme auf und warten auf die Bonner Prominenz, auf Fischer. Andrea, nicht Joschka wohlgemerkt. „Hätten wir den eingeladen, hätten wir gleich am Anfang eine Gegendemo riskiert“, sagt ein Grüner. Doch selbst die grüne Gesundheitsministerin bringt zwar Bodyguards und Fernsehteam mit, lockt aber nur wenige Besucher an den Stand, dem in den naßkalten Wetterkapriolen die Stellwände davonfliegen. Fischer selbst gibt sich optimistischer: „Daß wir uns rechtzeitig zum Wahlkampf konsolidiert haben, bringt uns viel Respekt ein.“ Eine Flasche zerplatzt auf dem Pflaster, die Ministerin zuckt zusammen. Seit dem Farbbeutel-Attentat auf den grünen Außenminister liegen bei ihr die Nerven blank, ihre Sicherheitsstufe ist erhöht. Fischer redet mit den wenigen Besuchern über Pflegeversicherung und Krankenhauskürzungen. „Daß wir die Kosovo-Diskussion so zugespitzt ausgetragen haben, war richtig“, so Fischer, „auch wenn das an der Mehrheit der Bevölkerung letztlich vielleicht vorbeigegangen ist.“

„Auf der Straße ist Kosovo kaum noch ein Thema“, sagt auch der Berliner Grünen-Sprecher Norbert Schellberg. Nur jeder dritte oder vierte der ohnehin wenigen interessierten Bürger, die am vergangenen Sonnabend den kleinen Grünen-Stand am Breitscheidplatz besuchten, sagte laut Schellberg etwas dazu. Dann aber richtig: „Ihr seid schizophren“, erregt sich ein Besucher lautstark, „dort tragt ihr einen Krieg mit, und hier steht ihr mit euren Luftballons.“

40 Parteiaustritte habe es seit Kriegsbeginn in Berlin gegeben, aber auch 90 Eintritte. „Richtig Sorgen“, erklärt Wolf, bereite ihm hingegen das jetzige Wählerverhalten, „gut möglich, daß diese Wahl eine Protestwahl gegen uns wird“, so der 56jährige, der diesmal auf Platz 8 der grünen Europaliste kandidiert. Renate Künast, frisch gekürte Spitzenkandidatin für die Berliner Landtagswahl, pflichtet ihm bei: „So ein Traumergebnis wie bei den letzten Europa-Wahlen erreichen wir dieses Jahr nicht, wir rechnen durchaus mit Verlusten“ – 1994 erreichten die Bündnisgrünen in Berlin rund 14 Prozent, wurden in Kreuzberg mit 34 Prozent gar stärkste Partei. Noch negativer sieht Künast die Stimmenlage im Ostteil der Stadt, „da ist den Leuten Europapolitik noch abstrakter als im Westen.“

Dafür, so Künast, gibt es dort mehr Stimmen gegen den Kosovo-Krieg, von der Diskussion am Info-Stand hin zu „finstersten Drohanrufen“ in den bündnisgrünen Filialen. Christoph Rasch